Kultur

Zäsur und Zensur: Die Kunstszene und der Nahostkrieg

Der Krieg im Nahen Osten radikalisiert die internationale Kunstszene. Es hagelt Unterstellungen, Absagen und Ausladungen, Boykottforderungen und Kritikverbote. Doch die Kultur der Untersagung bietet keine Lösung. Reise durch eine zerrüttete Branche in fünf Fallstudien.

Drucken

Schriftgröße

Die einen brüllen nieder, die anderen schweigen demonstrativ. Nur reden will über die Situation kaum noch jemand, als hätte es ohnehin keinen Sinn mehr. Die Meinungen sind besetzt, die Positionen unversöhnlich. Man spricht einander das Recht auf die Interpretation der Ereignisse ab.

So geht es seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und dem prolongierten Gegenschlag der israelischen Regierung ausgerechnet im Feld der Kultur zu. Wo man sich sonst gern der eigenen Reflexionsfähigkeit und des produktiven Umgangs mit weltpolitischen Fragen rühmt. Genau dort hat nun ein Gesinnungskrieg eingesetzt, in dem boykottiert und ausgeladen, gegenseitig mundtot gemacht wird, ein Stellvertreterkrieg um die Deutungshoheit in der Frage, wie die Gewalt in Gaza, ausgelöst durch einen islamistischen Terroranschlag und perpetuiert von den Streitkräften eines ultranationalistisch regierten Staates, zu beurteilen sei.

Propalästinensische Aktivismusgruppen schreien gegen unliebsame Diskussionen an, stören Lesungen, besetzen Kunstorte, die im Verdacht stehen, sich mit Israel zu solidarisieren; andererseits werden vielerorts palästinensische Schriftstellerinnen und Intellektuelle sicherheitshalber ausgeladen und mediale Hassstürme gegen Kunstschaffende mobilisiert, weil diese irgendwann die falschen Petitionen unterschrieben haben oder mit der BDS-Bewegung sympathisieren, die zu „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ gegen den Staat Israel aufruft. Bands sagen ihre Teilnahme an deutschen Musikfestivals ab, weil sie gegen die „palästinafeindliche“ Politik des Bundestags protestieren wollen.

Dazwischen regiert die – nicht ganz unbegründete – Angst der Veranstalter, die aber auch zur Erstickung der Debatten führt: Der Wiener Auftritt der US-deutschen Schriftstellerin Deborah Feldman („Unorthodox“), die zu den schärfsten jüdischen Kritikerinnen der israelischen Regierung zählt, wurde im vergangenen Dezember seitens des Gartenbaukinos wegen „potenzieller Konfliktherde“ abgesagt. „In der aktuellen Stimmung – global wie lokal“ – sehe man es „als schwierig bis unmöglich an, die Sicherheit und den Mehrwert einer solchen Veranstaltung zu gewährleisten“. Feldman spricht inzwischen von einer „Massenhysterie“, in der „absurderweise sogar Juden des Antisemitismus bezichtigt“ werden.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.