Leitartikel: Christian Rainer

Afghanistan: Brutal, aber banal

Was in Kabul passiert, braucht uns nicht wundern. Was in Österreich passiert, muss uns ärgern.

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An den Anfang dieses Kommentars stelle ich ein Zitat aus dem „Wall Street Journal“: „Biden gab seinen drei Vorgängern die Schuld dafür, sich nicht aus Afghanistan zurückgezogen zu haben. Er beschuldigte die Afghanen, nicht hart genug zu kämpfen, ihre Anführer, geflohen zu sein, und sogar die Afghanen, die uns geholfen hatten, nicht früher das Land verlassen zu haben. Die einzige Gruppe, die er auffälligerweise nicht beschuldigte, waren die Taliban.“

In dieser Abrechnung steckt der Ärger der renommierten Wirtschaftszeitung, die entgegen den Interessen des Finanzkapitals im Wahlkampf zähneknirschend Joe Biden statt Donald Trump unterstützen musste. Warum ist das Zitat darüber hinaus wichtig zum Verständnis der Vorgänge in und rund um Afghanistan? Weil es zeigt, dass selbst die Journalisten einer der besten Zeitungen der Welt nur mehr frustriert reagieren auf die Hilflosigkeit einer Supermacht und des vereinten Westens gegenüber einer lokalen islamistischen Bewegung. Weil man der These widersprechen muss, dass die westliche Wertewelt überraschend und ungeplant zu Fall gekommen sei. Weil sich die Muster im Großen wie im Kleinen vielmehr wiederholen.

So ist – erstens – die Volksmeinung naiv, der Westen hätte sich niemals in Afghanistan einmischen dürfen. Nach den Anschlägen von 9/11 wäre es für die USA unmöglich gewesen, auf globaler Ebene nicht militärisch zu reagieren. Das Islamische Emirat Afghanistan war das richtige Ziel, weil es den Bewegungsraum für Al Kaida geboten hatte, Osama bin Laden selbst beherbergte und als Ausbildungsstützpunkt diente. Die Feststellung des schlussendlich fehlenden militärischen Erfolges steht hier im Widerspruch zur Notwendigkeit des Handelns. Hätte der Westen nicht reagiert, so wäre das faktisch wie symbolisch ein Freibrief für terroristische Aktivitäten allüberall gewesen. Man hätte sich damit abgefunden, dass in islamistischen Strukturen fernab aller demokratischen und menschenrechtlich fundierten Gesellschaftsordnungen jedes Teufelswerk Platz greifen darf. Es wäre ein Offenbarungseid der westlichen Werte gegenüber mittelalterlicher Machtsysteme gewesen. Deshalb mussten die USA mit der NATO – und auch österreichischer Unterstützung – tätig werden, unabhängig vom möglichen Ausgang.

Es ist aber ebenso naiv, den Abzug der Amerikaner als Fehler zu bezeichnen. Für Joe Biden sind die Bilder dieser Tage aus Kabul ein Desaster, ebenso für Staaten wie Deutschland mit ihren als blind überführten Geheimdiensten. Allerdings hatte man sich nur (und das für mich unverständlich) bei der Geschwindigkeit verschätzt, mit der die Taliban die Hauptstadt ein-, nein, übernehmen würden. Dennoch: Nach zwei Jahrzehnten mussten die USA gelernt haben, dass der Krieg nicht zu gewinnen war, dass die politischen Verhältnisse nur künstlich, die Besatzung nur unter höchstem Aufwand aufrecht zu erhalten war. Gegenüber seinen Wählern – und entgegen dem „Wall Street Journal“ – hat Joe Biden konsequent agiert.

Das liegt freilich – zweitens – dann doch an einer Fehleinschätzung, der die Amerikaner unterlegen sind: dem Glauben an die Möglichkeit eines Nation-building in Afghanistan. Wir postulieren regelmäßig, dass Länder und Regionen binnen weniger Jahre in stabile demokratische Gebilde nach unseren Vorbildern umgewandelt werden können. Das ist einerseits arrogant, indem wir voraussetzen, unser eigenes Bild von Familie, Gesellschaft und Staat sei dem Menschen quasi biologisch immanent und müsse nur freigelegt werden. Und es ist andererseits ein naiver Glaube, der auch in den von uns überblickbaren Zeiträumen regelmäßig widerlegt wurde. Denn selbst wenn die Menschheit in demokratischer, liberaler und angstfreier Umgebung im Schnitt am glücklichsten leben kann, dauert es viele Generationen, bis sich diese Erkenntnis mental und real durchsetzt. Als rezente Beispiele dienen Syrien, der Irak, Libyen, Ägypten, wo Revolution und militärische Intervention eben nicht in stabilen Demokratien mündeten, sondern im Chaos. Näher liegend: Nach dem Zerfall des Ostblocks meinte die Europäische Union, meinten wir, die ehemaligen Trabanten der Sowjetunion würden binnen weniger Jahre in unserem Mindset erwachen und mit den Regeln des Westens erstarken. Gut 30 Jahre später erinnern uns die „autoritäre Demokratie“ Ungarn, das widerspenstige Polen, die Korruption in Bulgarien und Rumänien daran, dass gesellschaftspolitische Hinwendungsprozesse viel länger brauchen als eineinhalb Generationen. Von den Hoffnungen auf ein demokratisches Russland selbst ganz zu schweigen.

Am Schluss – drittens – eine Bemerkung zur österreichischen Haltung im Angesicht der afghanischen Tragödie. Hier finden wir passgenau jenes Muster, das seit der Übernahme der Volkspartei durch Sebastian Kurz zu erkennen ist: Außenpolitik wird im Handumdrehen in Innenpolitik verwandelt. Statt des Strebens, „Österreich weltpolitisch wieder auf die Landkarte zu bringen“, sehen wir ein Eifern, die mit dieser Methode bereits gewonnenen Wähler bei Laune zu halten.

Bei allem Wissen um die kriminelle Energie eines guten Teils der in Österreich lebenden Afghanen: Dass sich die Äußerungen der Bundesregierung zu einem Beharren auf weiteren Abschiebungen reduzieren, ist zynisch und erbärmlich. Wählen Sie das Adjektiv, das Ihnen besser behagt!

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.