Andreas Ambros-Lechner
Gastkommentar

Andreas Ambros-Lechner: Rasender Stillstand

Ein Plädoyer für eine neue Datenkultur in Schulen und einen Blick über den Tellerrand.

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Auf meinem Nachtkasten liegt seit zwei Jahren ein Buchrücken mit der Überschrift „Jedes Kind ist einzigartig“. Es ist ein Erziehungsbestseller des Schweizers Remo Largo. Gleich darunter liegt das Buch „Weltklasse“ von Andreas Schleicher, Statistiker und Bildungsforscher bei der OECD und Initiator der PISA-Studie. Er hat vor mehr als 20 Jahren Österreich in den PISA-Schock versetzt. Es wurde bekannt, dass die österreichischen Lese- und Mathematikleistungen im internationalen Vergleich nur mittelmäßig sind und die Leistungsschere zwischen Arbeiter- und Akademikerkinder bei uns besonders groß ist.


Österreich leistet sich das zweitteuerste Schulsystem Europas. Die Ergebnisse bei internationalen Erhebungen wie der Lesestudie PIRLS oder aktuell PISA sind seit Jahren durchschnittlich. Nicht schlecht genug, dass Eltern 
für Schulreformen auf die Barrikaden gehen, und nicht gut genug für  Jubelpressemeldungen vom Ministerbüro am Minoritenplatz. Unabhängig von den Ergebnissen wird eine echte Ergebnisdebatte mit Kritik an der Erhebungsmethodik im Keim erstickt, eine Datenvergleichbarkeit häufig grundsätzlich in Abrede gestellt. Jede Schule hat eine einzigartige Schülerzusammensetzung, und man könne daher nicht vergleichen, heißt es etwa. Oder Brennpunktschulen würden dadurch nur noch mehr stigmatisiert.

Österreich leistet sich das zweitteuerste Schulsystem Europas. Die PISA-Ergebnisse sind durchschnittlich.

Andreas Ambros-Lechner

In Österreichs Bildung sind Daten und ihre Darbietung schambehaftete Tabuthemen. Schulleitungen müssen bei vielen Erhebungen teilnehmen, oftmals ohne sichtbaren Nutzen und konkretes Feedback. Pädagoginnen und Schüler fürchten mehr negative Konsequenzen einer Testung als eine individuelle Standortbestimmung inklusive Entwicklungsmöglichkeiten. Der Schule, der Verwaltung und der Bildungspolitik geht es ähnlich. 
Die österreichische Bildungspolitik ist im rasenden Stillstand. Zwischen ideologischem Stellungskrieg Gesamtschule ja oder nein, anekdotischer Evidenz eigener Schulerfahrungen – ähnlich den neun Millionen Teamchefs im Fußball – und zahlreichen Reformvorhaben wie etwa dem Schulautonomie- oder Pädagogikpaket, die nur langsam in die Praxis greifen. Zwei zentrale Ursachen für das europäische Mittelmaß der österreichischen Bildung sind eine fehlende Daten- und Lernkultur im System und die fehlende öffentliche Debatte, wie Schule in Österreich zukünftig aussehen soll. Eine Ambition, um an die europäische Spitze zu kommen oder gar in der Weltklasse mitzuspielen. 

An die europäische Spitze der modernsten Bildungssysteme. Das wäre was. Lehrer, die wie in Singapur mit ihren Kollegen ihren Unterricht regelmäßig hinterfragen, hospitieren und challengen. Schuldirektoren, die nationale und internationale Best-Practice-Schulen studieren. Bildungspolitiker aller Couleur, die mit Wissenschaftern und Praktikern regelmäßig eine Woche lang in einen Intensivdialog treten. Schulverwalter, die neue OECD- Steuerungsansätze zu Happiness & Wellbeing in Schulen mit Vorreiter Indonesien analysieren. Regierungschefs wie Tony Blair und David Cameron mit der London Challenge in Großbritannien, die Bildung über Legislaturperioden hinweg zur Chefsache machen. Das wäre was. 

Jedes Kind ist einzigartig. Jede Schule ist einzigartig. Jedes Bildungssystem ist einzigartig. Um die vielen einzigartigen Talente der Kinder bestmöglich in die Entfaltung zu bringen, brauchen wir flächendeckend sehr gute Schulen und ausgezeichnete Bedingungen für Pädagogen, um die Besten für den Job zu begeistern und zu halten. Dafür benötigen wir eine breite Diskussion, woran wir sehr gute Schulen und Schulsysteme festmachen wollen. Und eine ehrliche Bestandsaufnahme des Status quo. Akademische Schülerleistungen in den Basiskompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft werden ein Kriterium sein. Eine Balanced Scorecard für Schulen, wie von AMS-Chef Johannes Kopf seit einem Jahrzehnt vorgeschlagen, mit mehreren Kennzahlen, wo beispielsweise die weitere Bildungs- und Erwerbslaufbahn abgebildet wird, ein weiteres. Oder der OECD-Happy-Life-Index für Schüler, der Faktoren wie Wellbeing, Beziehungsqualität, Engagement in der Gesellschaft und akademische Leistungen kombiniert. 

Österreich kann Weltklasse. Es ist Zeit, sich auf den Weg zu machen, die Fenster weit zu öffnen und mutig den Bildungsleitstern zu positionieren. 

Andreas Ambros-Lechner ist Generalsekretär der MEGA Bildungsstiftung.