Christian Konrad: Wundern, was möglich ist

Christian Konrad über sein Jahr als Flüchtlingskoordinator und wem er den Maria-Theresien-Orden für Missachtung von Befehlen verleihen würde.

Drucken

Schriftgröße

Am 24. August 2015 habe ich dem Vizekanzler zugesagt, als Flüchtlingskoordinator zur Verfügung zu stehen. Die damals besprochene Aufgabenstellung war: Unterstützung in der Kommunikation zwischen Bundesregierung, Bundesländern, Gemeinden, Wirtschaft und NGOs sowie bei der operativen Arbeit, um Quartiere für Flüchtlinge zu organisieren.

Zu diesem Zeitpunkt gab es die Herausforderung Traiskirchen: Rund 5000 Menschen in Zelten, Menschen unter dem freien Himmel, ohne entsprechende sanitäre Einrichtungen und mangelhafte medizinische Versorgung. Die Organisation betreffend Sachspenden war inexistent.

In den Tagen danach spitzte sich die Situation weiter zu. Wir alle erinnern uns an die 71 toten Menschen im Kühllaster auf der A4 und an die rund 900.000 Menschen, die dann über unsere Grenzen gekommen und zu einem überwiegenden Teil weitergewandert sind.

Die Organisation betreffend Sachspenden war inexistent

Das großartige Engagement der sogenannten Zivilgesellschaft hat die Überforderung der offiziellen Strukturen ausgeglichen. Denn damals hatte niemand einen Plan. Jeder Tag, jeder Halbtag konfrontierte mit neuen Herausforderungen. Und da waren es diese großartigen Menschen, die einfach zugepackt haben - tagelang, wochenlang, bis in den Dezember hinein.

Dieses Engagement besteht auch heute - ohne plakative Fotos von Bahnhöfen und Grenzübergängen. Jetzt ist die Zivilgesellschaft in und um die Quartiere und in der individuellen Betreuung von geflüchteten Menschen aktiv. Es engagieren sich noch immer Zehntausende Menschen in ganz Österreich.

Ich habe die Sorge, dass dieses Engagement von den politisch Verantwortlichen in diesem Land noch immer zu wenig bewusst gesehen und spürbar anerkannt wird.

Es engagieren sich Jung und Alt, Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlicher weltanschaulicher Prägung. Das ist eine unsichtbare Allianz eines hilfsbereiten und zukunftsorientierten Österreich als Antwort auf eine Ausnahmesituation.

Das gut verwaltete Österreich mit der Vielzahl von Bestimmungen, Vorschriften, Regelungen ist in einer Ausnahmesituation zu schwerfällig. Das haben die vergangenen Monate gezeigt. Die Kommunikation zwischen Bund, Ländern, Gemeinden, NGOs, Wirtschaft und neuen zivilgesellschaftlichen Initiativen braucht Zeit und Energie. Alle Beteiligten mussten viel lernen - und dieses Lernen ist noch nicht abgeschlossen.

Das ist eine unsichtbare Allianz eines hilfsbereiten und zukunftsorientierten Österreich als Antwort auf eine Ausnahmesituation

Auch ich habe viel gelernt. Mir ist nach wenigen Tagen bewusst geworden, dass die Sorge um menschenwürdige Quartiere mehr ist als nur eine logistische Herausforderung. Es ist eine Querschnittsmaterie. Mein Ziel war es deshalb, bei vielen Gesprächspartnern den Blickwinkel über den unmittelbaren Verantwortungsbereich hinaus zu weiten. Damit konnten oft schnellere und bessere Lösungen erreicht werden. Ich gebe aber zu, dass ich hier oft an Grenzen gestoßen bin.

Es hat sich aber auch viel bewegt. Ganz wichtig sind die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, sie haben zentrale Rollen. Noch vor einem Jahr hat nur ein Drittel der österreichischen Gemeinden Flüchtlinge aufgenommen gehabt, heute sind es zwei Drittel der Städte und Gemeinden. In vielen Gesprächen mit Bürgermeistern, bei drei Bürgermeister-Treffen (Partner waren Europäisches Forum Alpbach und Gemeindebund) habe ich die menschennahe und praxisorientierte Arbeit der Gemeindeverantwortlichen besonders schätzen gelernt. Eine mit Gemeindebund und GfK umgesetzte Studie bestätigte: Wer Flüchtlinge in der Gemeinde aufgenommen hat, ist gelassener, pragmatischer und lösungsorientierter. Viele Gemeinden haben neues Potenzial an freiwilligem Engagement entdeckt und erhoffen sich durch Zuzug sogar neue Chancen.

Ganz wichtig sind die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, sie haben zentrale Rollen

In der überwiegenden Zahl der Gemeinden wird Politik ohne die Aufgeregtheit anderer politischer Ebenen und der kurzfristigen und kurzsichtigen Fokussierung auf Schlagzeilen gemacht.

Die vorhin erwähnte Studie hat gezeigt, dass Gemeinden mit Flüchtlingen stark sensibilisiert sind - und der öffentlichen und veröffentlichten (medialen) Diskussion kritisch gegenüberstehen. Denn sie wissen, dass Schlagzeilen und bruchstückhafte Berichterstattung meist dem Realitätscheck durch die Erfahrungen in der jeweiligen Gemeinde nicht standhalten, aber energieraubende Rechtfertigungsdiskussionen auslösen.

Dabei ist aber auch unstrittig, dass die Ängste der Menschen vor dem Fremden ernst genommen werden müssen. Genau deshalb ist aber Transparenz im Asylverfahren, beim Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt notwendig.

Wir haben noch immer zu viele Asylsuchende, die seit zehn, elf und mehr Monaten auf ihren Interviewtermin oder Asylbescheid warten. Wir brauchen schnellere Asylverfahren die Rechtssicherheit und Klarheit geben. Gleich, ob unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF), erwachsene Frau oder erwachsener Mann, die "Wartezone Flüchtlingsquartier“ macht es sehr schwer, Perspektiven und Sinn für das eigene Leben zu finden. Das und die verordnete Untätigkeit während der Wartezeit auf Interviewtermin und Asylbescheid halte ich für fahrlässig. Ich teile auch die Einschätzung, dass wir frühzeitig - bereits während des Asylverfahrens - Deutschkurse und Kompetenzchecks brauchen. Der Zugang zur gemeinnützigen Arbeit muss erleichtert werden. Wenn wir mehr klar strukturierte Möglichkeiten zur Integration in Gesellschaft, Arbeitswelt, Vereinswesen und Freizeitgestaltung haben, wird das helfen, Konflikte zu minimieren und größeren Problemen in der Zukunft vorzubeugen.

Wir brauchen schnellere Asylverfahren die Rechtssicherheit und Klarheit geben

Hier setzen Freiwillige in ganz Österreich, Gemeinden, Unternehmen, NGOs bereits wichtige Akzente. Nicht selten bewegen sie sich dabei aber bewusst in rechtlichen Grauzonen (und über diese hinaus) und tragen zur Integration bei. Im militärischen Kontext hätte es früher dafür den Maria-Theresien-Orden gegeben - als Anerkennung für den Erfolg aus Eigeninitiative und den Erfolg durch bewusstes Missachten eines Befehls.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sehe ich als besondere Herausforderung. Die Begegnung mit diesen jungen Menschen und ihren Betreuern hat für mich viele Fragen aufgeworfen. Dem Alter entsprechende Unterbringung und Betreuung in den Erstaufnahmestellen, Übernahme in die Verantwortung der Jugendwohlfahrt in den Ländern, die Bereitschaft, in den Gemeinden Einrichtungen für jugendliche Flüchtlinge zu ermöglichen - es ist hier vieles, das noch zu verbessern ist. Der Zugang zu schulischer Bildung, zu Schulabschluss, zu Lehre - die Liste ist allen Beteiligten bekannt. Wenn wir hier nicht daran arbeiten, diesen jungen Menschen, die (in einer großen Zahl) bei uns bleiben werden, Bildung und Perspektive zu ermöglichen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie in unserer Gesellschaft nicht heimisch werden.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sehe ich als besondere Herausforderung

Was meine ursprünglich definierte Aufgabe betrifft, sehe ich, dass die Quartierfrage zunehmend zur Wohnraumfrage wird. Denn für Flüchtlinge brauchen wir zuerst Quartiere während des Asylverfahrens, und für Asylberechtigte brauchen wir Startwohnungen.

Die Zeit drängt. Wir brauchen alle Energie, um hier Lösungen zu finden. Gerade die Städte sind hier gefragt. Zeigt doch die Erfahrung, dass viele Flüchtlinge nach dem positiven Asylbescheid in die Ballungsräume ziehen. Hier erhoffen sie sich schneller einen Arbeitsplatz, besseren Zugang zu Bildung (auch für ihre Kinder), und sie haben in den meisten Fällen Anschluss an bestehende Communities.

In den anderen Regionen werden sie bleiben, wenn wir ihnen dort Perspektiven, Wohnung, Arbeit anbieten. Da erübrigt sich dann die Diskussion um Mindestsicherung und Residenzpflicht.

Die internationale Entwicklung ist unklar. Niemand weiß, wie es mit Flüchtlingsbewegungen nach Europa weitergeht und welche Herausforderungen Österreich zu bewältigen haben wird.

In Österreich ist beim Asylgipfel im Jänner 2016 von der Bundesregierung festgelegt worden, dass wir Flüchtlinge im Verhältnis von 1,5 Prozent der Bevölkerung aufnehmen können. Bei acht Millionen Einwohnern sind das 127.500 Menschen. Bis 2019, also für vier Jahre, ist das als Obergrenze oder Richtwert festgeschrieben. Die aktuelle Fokussierung auf eine Jahresobergrenze von 37.500 für 2016 ist meiner Meinung nach deshalb zu kurzsichtig.

Niemand weiß, wie es mit Flüchtlingsbewegungen nach Europa weitergeht

Wenn wir während des Asylverfahrens bereits die Integration im Blick haben, trägt das mehr zur Sicherheit bei als alle Zaun- und Abschreckungs-Kampfrhetorik. Ich bin noch immer überzeugt, dass die Herausforderungen zu bewältigen sind. Wer will, der kann!

Menschen in Österreich haben gezeigt, was möglich ist - und da haben sich viele wirklich gewundert.

Christian Konrad war Generalanwalt des Raiffeisenverbandes und wurde im August 2015 zum Flüchtlingskoordinator der Regierung bestellt. Das Amt endet im September.