Christian Rainer: Was wir nicht lernen werden

Die Menschheit wird durch die Corona-Krise nicht klüger. Vielleicht versäumen wir gerade jetzt unsere letzte Chance.

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Als am Mittwochmorgen dieser Woche im Radioprogramm des ORF der schon gewohnte Satz fiel, wonach der öffentliche Rundfunk den folgenden Sendeplatz der Regierung kostenlos zu Verfügung stelle, und als dann nicht der erwartete Aufruf zu „Distanz und Rücksicht“ folgte, sondern zu Solidarität mit den Opfern des syrischen Bürgerkrieges – in diesem Moment zeigte sich: Die Corona-Krise ebbt ab. Wir wünschen uns, wieder mit den Katastrophen der anderen berieselt zu werden. Die Einschränkung unserer eigenen Bürgerrechte soll abgelöst werden durch die Nachricht vom Fehlen aller Flüchtlingsrechte. Unser Leid schrumpft im Verhältnis zur zerstörten Existenz der Syrer. Vorläufige Normalität kehrt ein. Vielleicht ist sie ja trügerisch, weil niemand weiß, ob das Virus verschwinden oder uns noch lange begleiten wird.

Woche vier. Österreich beruhigt sich – zu früh, um der Krise das Sinnstiftende abzutrotzen, das ihr innewohnt.

Das geflügelte Wort dieser Zeit: Corona sei die größte Krise seit 1945.

Der Befund ist irreführend, und das gilt es aufzuklären. Der Vergleich mit 1945 (den auch ich schon gezogen habe) suggeriert, dass diese Pandemie in ein Verhältnis zu den Gräueln des Zweiten Weltkrieges gestellt werden kann und dass sie dabei an zweiter Stelle rangiert – aber eben rangiert.

Die Regierung bemüht den Vergleich in jeder ihrer Pressekonferenzen. Mit diesem Schreckensbild gelingt es, dem Volk ohne Widerstand all die Maßnahmen zu oktroyieren, die mit Recht oktroyiert werden. Zugleich immunisieren sich die Politiker (aber auch wir Journalisten uns) mit „seit 1945“ gegen die Gefahr, dass die Suspendierung der Grundrechte im Nachhinein als überzogen dargestellt wird. (In manchen Ländern – Italien, Spanien, Großbritannien – wird „1945“ das Zögern und Scheitern angesichts einer solcherart monströs vergrößerten Bedrohung rechtfertigen.)

In Wahrheit ist der Vergleich nicht statthaft. Er reduziert die Dimensionen des Wortes „Krieg“ und besonders des Zweiten Weltkrieges. Er stößt Menschen vor den Kopf, die den Balkankriegen ausgesetzt oder Opfer von Diktaturen im Irak, in Afrika und Südamerika waren.

Und der Vergleich drängt ebenso die Leidtragenden des syrischen Bürgerkrieges ins Abseits, die sich nur langsam wieder in unser verschrecktes Bewusstsein schleichen dürfen.

Corona bewirkt ein Innehalten, keine Traumatisierung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Corona-Krise uns klüger macht.

Ad notam auch: Es sind nicht Letalität und Ausbreitungsrate von Covid-19, die uns nun irreführend einzigartig erscheinen. Vielmehr ist die Bekämpfung von Covid-19 mit der Aussetzung von persönlichen Rechten und dem wirtschaftlichem Shutdown so außergewöhnlich.

Die Zwiespältigkeit des Befundes, das Auseinanderfallen von Zustand – in Österreich einige Hundert Tote – und Drohbild – 100.000 Tote – verzerren auch unser Bild von der Wirkungsmacht dieser Krise. Einerseits verfolgen wir argwöhnisch die Gefährdung der demokratischen Verfasstheiten durch das Gift der Notstandsgesetze. Mir scheint aber, dass der sprießende Widerstand der Zivilgesellschaften ein wirksames Antidot ist: Wir werden bei einem präzisen Maßnahmenkatalog für zukünftige Pandemien enden, aber nicht mit viel mehr.

Andererseits weckt diese Krise auch Hoffnungen. Die Erwartungen reichen von einer Aufwertung der zwischenmenschlichen Währung bis zu den ganz großen Themen.

Demnach würde Corona der Konsumgesellschaft Einhalt gebieten und der Bannkreis einer auf Wachstum angewiesenen Wirtschaft gebrochen. In der Folge würden der Ressourcenmissbrauch eingebremst und die Erderwärmung gestoppt. Die treibende Kraft wäre eine Bewusstseinsveränderung – ausgelöst durch die Erkenntnis, dass eine nicht gar gekochte Fledermaus auf einem chinesischen Markt die Menschheit ausrotten könnte.

Ich halte diese Hoffnungen für naiv und weit überzogen. Sie gehen davon aus, dass Corona ein Trauma verursacht, das unser Verhalten nachhaltig beeinflusst. Aber genau das stimmt nicht. Corona ist eben kein Weltkrieg, der zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Friedensprojekt führte. Corona bewirkt ein Innehalten, keine Traumatisierung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Corona-Krise uns klüger macht. Vielleicht versäumen wir gerade jetzt unsere letzte Chance.

[email protected] Twitter: @chr_rai