Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Das Amen im Ministerrat

Das Amen im Ministerrat

Drucken

Schriftgröße

Vor hundert Jahren lag die Lebenserwartung von österreichischen Männern bei 44 Jahren, Frauen wurden im Schnitt 47. Wäre das heute noch so, dann hätte sich die Regierung mit ihrer Budgetpolitik ein wenig leichter getan. Rund ein Viertel der Staatsausgaben fließt in Pensionen, das faktische Pensionsantrittsalter ist 58. Noch Fragen?

Eine andere Statistik (realitätsnäher, da die Werte des Jahres 1912 durch die hohe Kindersterblichkeit verzerrt sind): Von allen Menschen weltweit, die jemals in der Geschichte 65 Jahre alt wurden, leben heute noch zwei Drittel. Auch diese Zahlen geben einen deutlichen Hinweis auf die wichtigste Ursache der Budgetnot in Österreich (und anderswo).

Schließlich: Die Aufwendungen des Bundes für Pensionen stiegen zwischen 2001 und 2010 um 53,5 Prozent, als Anteil an den Gesamtausgaben von 18 auf 24 Prozent. 2012 wird der Pensionszuschuss des Bundes erstmals höher sein als das gesamtstaatliche Defizit. (Wie war das mit der Pensionsreform von Schwarz-Blau, der neben dem legendären Nulldefizit und dem Niederringen der FPÖ wichtigsten Errungenschaft jener Periode?)
Wenn man das, was uns nun recht unausgereift (Finanztransaktionssteuer!) als Sparpaket präsentiert wird, im Lichte dieser Berechnungen sieht, dann wird klar, war­um der Löwenanteil des fehlenden Geldes aus dem Umfeld der Renten kommen muss: die Macht des Faktischen. Wer einen Plan vermutet, wird enttäuscht. Vielmehr liegt hier – erstens – die größte Spielmasse. Ein höheres Antrittsalter von einem Jahr spart 1,2 Milliarden Euro. Der Widerstand ist – zweitens – gering, da es vor allem um zukünftige Pensionisten geht. Diese haben keine gemeinsame organisierte Lobby. Und zufällig – drittens – kommt der Politik eben die demografische Entwicklung entgegen: Während das Pensionsalter in den vergangenen 40 Jahren um durchschnittlich zwei Jahre gesunken ist, stieg die Lebenserwartung im selben Zeitraum um gut zehn Jahre – macht zwölf Jahre Pension, die nun zusätzlich finanziert werden müssen oder eben nicht (siehe oben).

„Zufällig?“ Selbstverständlich. Die Regierung sucht hier bloß den Weg des geringsten Widerstandes und trifft dabei ins Schwarze. Das also ist Politik. (Zynisch darf man positiv anmerken: Immerhin brachte niemand jenes Argument ins Spiel, das vor wenigen Jahren zur Standardausrüstung von Gewerkschaft und Arbeiterkammer gehörte, dass nämlich ein höheres Pensionsalter zu Massenarbeitslosigkeit führen muss.)

Warum diese ausführliche Beschäftigung mit einem Teilaspekt des Spar- und Steuerpaketes? Weil hier einmal mehr und wie das Amen im Ministerrat vorgeführt wird, dass diese Regierung keine Politik macht, das übergeordnete Ganze nicht im Blick hat, dass jede Vision fehlt, dass stattdessen per Interessenabgleich Entscheidungen getroffen werden – und all das erst dann, wenn nicht nur der Hut brennt, sondern die Haare auch.
Wenn zufällig das Richtige getan wird wie bei den Pensionen, dann erklärt das niemand so, dass jeder es kapieren kann: „Zwölf Jahre mehr in 40 Jahren ist zu teuer“, das würde jeder einsehen. (Und dann wäre vielleicht auch eine stärkere Anhebung des Rentenalters drinnen.) Folgerichtig bleiben auch alle anderen Fragen unbeantwortet beziehungsweise werden sie nur mit einem dumpfen „Spardruck“ quittiert.

Warum sehen die Einsparungen bei den Beamten so und nicht anders aus?
Welche Förderungen wird es nicht mehr geben, und auf Basis welcher ökonomischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen haben sich genau diese überholt?

Mit welchem mathematischen Modell unter Einbeziehung welches Nobelpreisträgers wurden die zukünftig erlaubten Kostensteigerungen im Gesundheitssystem errechnet? (Und bedeutet das, ab sofort werden Operationen und medikamentöse Behandlungen bei Erreichen dieses Steigerungsfaktors abgebrochen?)

Welches ist die tiefere Bedeutung des Wortes „Solidarität“ bei Spitzenverdienern? (Ja, das ließe sich erklären – mit dem Auseinanderklaffen der ­Vermögensverteilung. Problem nur: Da wäre eine Vermögens- und Schenkungssteuer die geeignete Gegenmaßnahme, nicht eine zusätzliche Einkommensabgabe.)

Und zuallerletzt, zusammengefasst und vielleicht am wichtigsten: Wo wird weggenommen, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben oder bisherige Leistungen sinnlos waren (etwa in der Geburtenpolitik), wo wird zusätzlich gezahlt (etwa bei Bildung und Forschung)?

Kommentar zum letzten Absatz: Dazu gibt es genau nichts, null, zero von dieser Regierung. ■

[email protected]