Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Der scheinheilige EM-Boykott

Der scheinheilige EM-Boykott

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In den Wochen vor der Fußball-Europameisterschaft wurde in den europäischen Staatskanzleien darüber diskutiert, ob man die Spiele in der Ukraine boykottieren solle. Die Spiele nicht zu besuchen könne ein Zeichen sein, um gegen Menschenrechtsverletzungen und speziell die Behandlung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zu protestieren. Deutschland entschied sich für einen Boykott, was es der österreichischen Bundesregierung erlaubte, Angela Merkels Entschluss ohne weitere Reflexion nachzuvollziehen.

Glasklare Entscheidung dort, Nachahmung hier – im intellektuell geprägten Umfeld wird die Vorgangsweise begrüßt; bei der zigtausendmal größeren Fangemeinde des Fußballs regis­triert sie wohl kaum jemand, daher kein Schaden im Wählereintopf, daher überhaupt erst möglich.
Eine moralisch fundierte Entscheidung beherzter Politiker gegen das Böse, die gute Seite eines dubiosen Berufsstands, die Oberhand richtiger Politik gegen den globalen Unterschleif? Darüber lässt sich trefflich streiten.

Und es lässt sich mehrfach mit Nein beantworten: weil die Auswirkungen im konkreten Fall widersprüchlich sind; weil solche Überlegungen ganz allgemein von ­einer grundfalschen Interpretation politischer Vorgänge ausgehen.

Konkret geben die Reaktionen aus der Ukraine zu denken. Selbst die vehementesten Gegner des Regimes von Viktor Janukowitsch kritisieren die Entscheidung. Sie weisen darauf hin, dass gerade die Präsenz ausländischer Politiker zu einer Verbesserung der Situation, „zu einer kleinen Bewegung des Landes in Richtung Westen“ geführt hätte.
Man darf überdies vermuten, dass öffentliches Agieren vor Ort deutlich mehr Aufmerksamkeit erzielt hätte als das Passivgehabe eines Boykotts, etwa harsche Aussagen der deutschen Kanzlerin oder die Verweigerung des Kontakts mit den offiziellen Repräsentanten der Ukraine. Folgerichtig darf man auch vermuten, dass der Boykott in Wahrheit nur beschlossen wurde, weil sich Merkel, François HollandeMario Monti oder auch Werner Faymann entsprechende peinliche Fragen und Situationen ersparen wollten.

Aus eigener Anschauung füge ich hinzu: Im Rahmen einer Reise mit der österreichischen Caritas nach Charkow im Jänner dieses Jahres bot sich ein durchaus zwiespältiges Bild. Eindeutig sind in der Ostukraine nur furchtbare Armut und die Ungleichverteilung des Reichtums, also die Zeichen epidemischer Korruption. Die Frage, ob Frau Timoschenko nun unschuldig ist oder gar eine Lichtgestalt, ließ sich hingegen nicht einmal ansatzweise beantworten. Dieser Befund erlaubt eine weitere Mutmaßung: Ohne die Kraft des Bildmaterials, das von Timoschenko-Unterstützern verbreitet wird, wäre dieser Boykott auch nicht zustande gekommen. Von ähnlichen Aktionen anlässlich des Eurovision Song Contest im ungleich autoritäreren Aserbaidschan ist nichts bekannt. Skurrilerweise erwog nämlich nur ein Land einen Boykott des Sängerwettstreits – die Ukraine.

Historische Vergleiche liefern uneinheitliche Ergebnisse: Der Boykott der Olympischen Spiele in Moskau 1980 führte zu keiner Veränderung der Lage in Afghanistan, sondern bloß zu einer Retorsion in Los Angeles vier Jahre später. Die Isolierung Kubas brachte der Bevölkerung nichts, der Besuch von Papst Johannes Paul II. bei Fidel Castro im Jahr 1998 hingegen unter anderem die Wiedereinführung des Weihnachtsfests. Südafrikas Apartheid-Regime hingegen wurde wohl durch den internationalen Boykott in die Knie gezwungen. Die Haltung gegenüber Tibet wiederum, dem Dalai Lama und China – da sind nicht einmal Werner Faymann und Heinz Fischer auf einer Linie.

Jedenfalls: Wer glaubt, dass beim Boykott des ukrainischen Anteils der Europameisterschaft Moral, Menschenrechte oder auch nur außenpolitische Ziele zum Zuge kommen, liegt falsch, denkt zu einfach. Moral in der Politik ist nicht die Grundhaltung eines Einzelnen, sondern eine mathematische Ableitung aus der Mehrheitsfähigkeit politischer Entscheidungen. Menschenrechte sind folgerichtig ein der jeweiligen Zeitströmung entsprechendes Ergebnis solcher Rechnungen. Außenpolitische Ziele wären in diesem Zusammenhang individuelle Rechenoperationen im Rahmen des Ganzen.

Im konkreten Fall der EURO 2012 ist der Boykott allerdings nicht einmal einer sinnvollen Außenpolitik geschuldet, vielmehr auf Basis von Opportunitätserwägungen entstanden. Für die Demokratisierung der Ukraine ist der Boykott eher ein Nachteil. ■

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