Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Die Illusion von Sicherheit

Die Illusion von Sicherheit

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Rund um den Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten ist auch eine kleine Debatte entstanden, die neben Christian Wulff eine ganze Generation zum Subjekt hat, ja sogar noch weiter greift und erst kurz vor einer generalisierten Sinnfrage haltmacht. Frank Schirrmacher, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, etwa nahm den Anlass wahr, um einen Generationsbefindlichkeitsdiskurs nochmals aufzuheizen – nein, nicht aufzuwärmen, für dieses Wort ist die Angelegenheit zu wichtig –, der in Deutschland seit Monaten im Gange ist. Schirrmacher verkündete am Beispiel Wulff den „Sturz der Babyboomer“, jener „ersten Generation, die im klassischen Sinne nichts ,durchsetzen‘ musste“ und dar­über als politische Gruppe dem Markt verfallen und visionslos geworden war: „Eine ganze Generation konservativer ­Babyboomer hat aufgegeben.“

Nun ist das angebliche Scheitern der rechtskonservativen bürgerlichen Wertewelt, die sich in der aktuellen Finanzkrise manifestiert hätte, nicht neu, sondern ein Gedanke, den der selbst erzkonservative Schirrmacher seit einiger Zeit im Munde führt, und es bedarf auch einiger Anstrengung, das Kleinschurkentum des kleinbürgerlichen deutschen Staatsoberhauptes darauf zurückzuführen, dass dessen Generation die „Rentensicherung als Lebensprojekt“ (Schirrmacher) definiert hatte. Aber das Mittel Wulff mag den Zweck heiligen, nämlich die Ideenlosigkeit einer flächendeckenden Politiker-, Manager- und Unternehmergeneration herauszupräparieren, die ja auch an dieser Stelle schon des Öfteren Thema war und beklagt wurde.

Zumal der These des deutschen Feuilletonisten ja bloß insofern zu widersprechen ist, als er – wohl der eigenen Identität geschuldet – das beschriebene Phänomen stark an eine Bourgeoisie-Kritik bindet – was darüber hinaus auch mit den deutschen Verhältnissen, also der Existenz eines die Gesellschaft prägenden Bürgertums zu tun hat. Folgerichtig ist das Bild eines sinnbefreiten Volkes und seiner blaugepausten Führungsfiguren prächtig auf Österreich übertragbar, und es muss hier auch nicht exklusiv auf ein weltanschauliches und politisches Lager zugeschnitten werden: In Österreich ist die Herrschaft von Sprach- und Ideenlosigkeit sozialpartnerschaftlich verteilt, während die rhetorische Gewalt sowie das Monopol auf Agendasetzung in erbärmlicher Weise von radikal rechten Lumpen ausgeübt wird.

Freilich zeigt diese Skizze einer Generation, die den Selbstzweck scheinbar schicksalshaft zum Lebensinhalt machen musste, die Verhältnisse nur im Selbstbild der so Beschriebenen. Der Gedankengang verdient es jedoch, weiterverfolgt zu werden – wo er überraschend in die Gegenrichtung biegt.
Die postulierte Belanglosigkeit der heute Tonangebenden beruht ja darauf, dass sie weder in persönlicher Not ums tägliche Brot kämpfen mussten wie die Menschheit bis vor maximal hundert Jahren. Noch waren sie in Revolutionen und Kriege verfangen, und sie mussten sich auch nicht um Wiederaufbau kümmern. Ja, selbst die Liberalisierung der Gesellschaft hatten den heute Fünfzigjährigen die um zwanzig Jahre Älteren abgenommen.

Keine Aufgaben also, keine Sorgen? Ein Irrtum. Wer aus der relativen ökonomischen und außenpolitischen Stabilität der vergangenen Jahrzehnte schließt, man könne diese nun in alle Zukunft projizieren, denkt absurd naiv. Was denn als ein Zufall der Geschichte hat diese Stabilität bewirkt? Weder ist der Mensch durch breite Genmutation ein bequemerer Geist geworden, als es seine Vorfahren über Millionen von Jahren waren, noch wurde als Höhe- und Endpunkt der Aufklärung nun endlich eine Regierungsform gefunden, die lokale und globale Repräsentation zur Zufriedenheit aller garantierte, noch ein Wirtschaftssystem, das die Not zu einer historischen Fratze degradierte. Vielmehr schwebt die vorgeblich von drängenden Aufgaben befreite Babyboomer-Generation bloß auf einer Insel von Zeit und Raum.

Mehr noch: Zu den Fragen nach der ­Vertrauenswürdigkeit von Weltmächten wie China und Russland, aber auch der Demokratien Mitteleuropas sind zwei neue apoka­lyptische Szenarien getreten, die in der Geschichte bisher nicht existierten, sich vielmehr genau in der Lebensphase der Generation herausbildeten, von der die Rede ist, von ihr daher zu verantworten und abzuwehren sind: Erstmals hat es die Menschheit in der Hand, sich selbst schnell auszurotten, sei es mit einem Schlag durch ein entfesseltes Atom­waffenarsenal, sei es etwas langsamer durch einen Klimakollaps.

Möglicherweise ist die Aufgabe dieser Generation, der jede Aufgabe abgesprochen wird, daher schwieriger als die Anforderungen an deren Vorväter, nämlich statt mit groben Schlägen Stabilität zu schaffen, diese Stabilität durch Feinarbeit zu erhalten. Falls sich ebenjene Generation in Verkennung der Verhältnisse mit den Visionen auch allen politischen Handwerkszeugs entledigt hat, dann leben wir in ­außerordentlich gefährlichen Zeiten.

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