Leitartikel

Christian Rainer: Ein halbes Jahrhundert

profil ist 50 und war niemals alt.

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Die erste Ausgabe von profil erschien vor 50 Jahren, am 7. September 1970. Auf der Titelseite standen die Worte „FPÖ zwischen Macht und Pleite“, ein Germanenhelm diente der Visualisierung.


Hier könnte dieser Leitartikel enden. Denn die Titelzeile von damals zeigt, dass ein halbes Jahrhundert, dass jenes halbe Jahrhundert nur ein Wimpernschlag war. Die zentrale gesellschaftspolitische Frage, die Österreich seit 1945 beherrscht, die lange totgeschwiegen wurde, die subtil wie auch öffentlich alle Ebenen der Republik beeinflusst, ist die gleiche geblieben: Wie gehen wir mit unserer noch immer jungen Vergangenheit um, wie beeinflusst diese Vergangenheit den Staat und seine gewählten Vertreter? Von jenem Cover 1970 bis zur Publikation des Ibiza-Videos 2019 führt ein gerader und kurzer Weg – immer „zwischen Macht und Pleite“.


Damit sind aber auch viele der Aufgaben für das einzige politische Nachrichtenmagazin des Landes abgesteckt. Es galt und gilt, Spuren zu suchen und Fährten aufzunehmen, die auf zerstörerische Entwicklungen hinweisen  und unentdeckt weit größeren Schaden anrichten können als von Journalistinnen und Journalisten frühzeitig erkannt und dargestellt. Das betrifft nicht nur den politischen Raum an der rechten Kante der Demokratie und generell nicht ausschließlich die politischen Verwerfungen dieser und anderer Welten. Wir verrichten unsere Klärungsarbeit in allen Lebensbereichen. Wenn wir diese Bereiche als Ressorts bezeichnen mit den Namen Österreich, Wirtschaft, Außenpolitik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur, dann ist das einer Tradition geschuldet, dient der Orientierung unserer Leserinnen und Leser – eine Tradition, die erstaunlicherweise von sehr vielen Medien verlegerischer Herkunft mit kleinen Abweichungen bis heute gepflogen wird.


Umso überraschender erscheint diese formal und inhaltlich kontinuierliche Vermessung der Welt, weil sich die Darreichungsform unserer Arbeit geändert hat. Besser: erweitert hat. Jene Ausgabe von 1970 hebt sich im Inhalt eben nicht völlig, nicht substanziell von dem ab, was wir 2020 produzieren. Aber heute sind online abrufbare Artikel, Videos, Podcasts, das E-Paper in einen Verbund mit der gedruckten Version von profil gerückt.


Was kann dieser Leitartikel zum 50. Geburtstag eigentlich sein, was kann ich auf 5000 Zeichen zu allem anderen im Vorfeld des Jubiläums Gesagten noch ausdrücken? In dieser Ausgabe wird so breit über unsere Geschichte und ihre Einbettung in die Verfasstheit der Welt geschrieben, dass scheinbar wenig übrig bleibt.

"Neben der Unzahl investigativer Coups zeichnet profil der stete Widerstand gegen das rechte Lager aus."

Daher kann dieser Text nur eine kleine Selbsterklärung sein, auch eine verkappte Liebeserklärung. Es ist eine Liebeserklärung an die Worte und die Bilder, die dieses Magazin seit 50 Jahren produziert und verbreitet. Wie Hans Rauscher, ein Gründungsredakteur von profil, in seiner eigenen Würdigung vergangene Woche via „Standard“ sinngemäß formulierte: Neben der Aufgabe, die Rückständigkeit Nachkriegsösterreichs aufzubrechen, neben der Unzahl investigativer Coups zeichne profil der stete Widerstand gegen das rechte Lager aus. Richtig: Denn dort fokussierte sich immer schon der österreichische Extremismus, die Hetze, die Unmenschlichkeit,das verdrehte Geschichtsbild. Andere Ausartungen des politisch Extremen spielten in Österreich nie eine annähernd vergleichbare, schädliche und schändliche Rolle. So entsteht die Kongruenz jenes ersten profil-Covers am 7. September 1970 mit vielen unserer Titelseiten im dritten Jahrtausend.


Auch mein persönlicher Weg in den Journalismus begann mit dem Widerstand gegen rechts, gegen die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim. Daher ist es nur folgerichtig, dass ich seit 22 Jahren genau hier arbeite. Diese Arbeit ist ein Geschenk an mich, ein Geschenk, das ein erfülltes Berufsleben, nein: mein Leben, ausmacht, für das ich mich jede Woche aufs Neue mit eigenem Einsatz zu bedanken versuche.


Freilich sind diese Inhalte, aus denen ein größeres Ganzes in Form einer Haltung entsteht, keine Entität ohne Wesen. profil ist noch mehr als alle anderen Zeitungen, alle anderen Magazine, alle anderen Redaktionen, die ich kenne, eine Gruppe von außergewöhnlichen Menschen. In einer Zeit der permanenten Verfügbarkeit von Nachrichten halten wir damit eine Sonderstellung. Jede/r dieser rund 40 Akteure ist ein ganz besonderer Charakter. Jede/r hat einen gewaltigen Erfahrungshorizont. Alle sind streitbar, aber jede/r kennt die Grenzen. Keine/r hat jemals einen Satz wider besseres Wissen geschrieben. Niemand bei profil versteht seinen Beruf nur als Arbeitsplatz.


Es ist für alle und besonders für mich ein Privileg, hier, für profil, in dieser Redaktion und für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Journalismus ausüben zu dürfen. 

Christian Rainer ist seit 22 Jahren Herausgeber und Chefredakteur von profil.

[email protected]
Twitter:@chr_rai

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.