Christian Rainer: Gegen die Länder für die Länder
Michael Schickhofer, der steirische SPÖ-Chef, hat einen Vorschlag gemacht: Ein Generallandtag soll den Bundesrat ersetzen und alle Landesgesetze gemeinsam beschließen. Die neun Landtage würden nur mehr als Hüter der Landesverfassungen zusammentreten. „Aber die übrigen 3000 Gesetze sollten wir in 300 Gesetzen zusammenfassen“, sagt der Landeshauptmann-Stellvertreter. Ein „Standard“-Poster mit dem möglicherweise nicht durch seinen Personalausweis verbrieften Namen „Living on the Moon“ kommentierte das am vergangenen Freitag so: „Supervorschlag. Wundert mich, dass der Mann noch lebt.“
Vor Nahtoderlebnissen haben sich steirische Politiker nie gefürchtet. Sie legten Gemeinden zusammen, die so klein waren, dass jedes Rindvieh Anspruch auf einen Sitz im Gemeinderat hatte. Im Landhaus versprachen einander SPÖ und ÖVP zu einer Reformpartnerschaft, die ohne Pizza-Botschafter und Bolschewiken-Bahö’ auskam. Und ohne Not verzichtete der vorhergehende zugunsten des aktuellen Landeshauptmanns, obwohl der aus dem anderen Lager kommt. Somit wollen wir Herrn Schickhofer nicht nur ernsthaft zuhören, sondern ihm auch ernsthaft zustimmen.
Die Struktur der Republik mit ihrem föderalen Skelett stammt aus einer Zeit, als Nachrichten gerade nicht mehr mit Reitboten und eher selten per Internet übermittelt wurden, als die Verantwortung für Europa noch in Trümmern und noch nicht in Brüssel lag, als die Erde unregelmäßig händisch und nicht in Echtzeit von Satelliten vermessen wurde. Tatsächlich entspricht der autonome Charakter der Bundesländer heute, großteils unverändert, der Bundesverfassung von 1920, in der Österreich zu einem Bundesstaat konfiguriert wurde. Die Aufgaben und die Grenzen der Bezirke sind vielfach älter und im Habsburgerreich gewachsen. Hätte man das Organigramm eines Unternehmens seit 100 Jahren unverändert gelassen, dann wäre das Unternehmen seit 90 Jahren pleite. Und was, wenn nicht Großkonzerne, sind Staaten, mit dem Recht auf einen Anteilsschein für jeden Bürger, mit komplexen Abstimmungsmechanismen, mit einer Vielzahl von gesatzten und informellen Hausregeln?
Eine Reform hin zur Effizienz würde das addierte Gewicht der Landeshauptstädte vergrößern.
Es fällt schwer, jene Beharrungskräfte zu identifizieren und zu vermessen, die für dieses Beharrungsvemögen des Systems verantwortlich sind. Ein brauchbares Bild ist jenes von der doppelten Identität jedes Bürgers und damit auch des Politikers: Zuallererst ist ein Ebenseer natürlich ein Ebenseer und nicht ein Österreicher, ein Leibnitzer ein Leibnitzer, ein Langenloiser ein Langenloiser. Das ist Heimat. In der Kongruenz von Wien als Bundesland und als Sitz der Bundesorgane entsteht demgegenüber ein Miss- und Unverständnis, das von der großstädtischen Elite, von den hier ansässigen Medien, von den Zentralstellen der Bundesverfasstheit vervielfacht wird. „Am Land“ hingegen wirkt Kritik am Föderalismus als Angriff auf die eigene Identität. Wer den Bundesrat infrage stellt, weil er in seiner Beschickungsarithmetik nicht dem Gewicht der jeweiligen Bevölkerung entspricht und daher undemokratisch ist, weil er in seinen Aufgaben sinn- und machtlos agiert, der schürt mit dieser Analyse die Angst, dass der Einfluss der Länder oder der Gemeinden, also des Einzelnen sinken könnte. Wer feststellt, dass die Landeshauptleute nicht solidarisch das Gesamtwohl mehren, sondern diese Summe durch Eigennutz reduzieren, der wird als Feind der Provinz wahrgenommen. Wer moniert, dass Jugend- und Tierschutz, Bau- und Schulordnung ohne Grund mit neun zu multiplizieren sind, dessen Maul wird mit hanebüchenen Hinweisen auf die unterschiedlichen Schulen, Bauten, Tiere und – ja, auch – Kinder gestopft.
Natürlich geht es nicht nur um kulturelle Identitäten, sondern auch um Jobs, Geld, Macht, vielleicht auch um die Möglichkeit zum paralegalen Unterschleif im auf kleinste Einheiten heruntergebrochenen Machtgefüge. Geschenkt!
Was in der Perspektive des Abwehrkampfes aus tiefen Schützengräben nicht sichtbar ist: dass die Föderalismus-Diskussion gar nicht eine Schwächung der Länder zum Ziel hat. Würde sonst ein Landespolitiker wie der steirische Konzepte entwerfen? Vielmehr kann der Versuch einer neuen Familienaufstellung ja zur Stärkung der Länder führen, indem sich die neun Landesinteressen nicht weiter neutralisieren, sie die Bundespolitik nicht paralysieren und sie dabei nicht gelegentlich einen Parteiobmann konfiszieren.
Eine Reform hin zur Effizienz würde das addierte Gewicht der Landeshauptstädte vergrößern. In einem Unternehmen hieße das Produktivitätsgewinn. Im Tierreich ist es das Überleben durch Schwarmintelligenz.
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