Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Gibt’s Gerechtigkeit?

Gibt’s Gerechtigkeit?

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Gibt’s Gerechtigkeit? Gegenfrage: Gibt’s Gott? Falsche Frage. Ob’s Gott gibt, soll jeder selber beantworten, der meint, dass nicht schon die Frage Unsinn ist. Mit der Gerechtigkeit ist es schwieriger. Da geht es nicht bloß um persönliche Befindlichkeiten all derer, die sich als Opfer fühlen, also um eine samtene Form von Rache. Im Strafrecht ist die Rache gar nicht vorgesehen, die muss sich jeder Einzelne schon per Zivilrecht als Wiedergutmachung erklagen. Strafrecht funktioniert in der Theorie anders: Da soll der Täter per Spezialprävention von weiteren Delikten abgehalten werden und der Rest durch Generalprävention gleich gar nicht auf blöde Ideen kommen.

Heißt also zum Beispiel: Falls ein Herr Martinz (Unschuldsvermutung!) in Kärnten verurteilt würde, dann ginge es nur darum, dass weder er noch jemand anderer in Zukunft ein bisschen zu viel für ein Gutachten zahlt. Und falls Herr Grasser (Unschuldsvermutung!) nicht doch noch erklären kann, warum die Schwiegermama nichts vom Geld wissen will, das laut Karl-Heinz ihr gehört, dann wird er bloß verurteilt, damit weder er noch jemand anderer auf die Idee kommt, Steuern zu hinterziehen, allenfalls sogar für Geld, das er gar nicht haben dürfte. (Übrigens: Grasser beklagt sich ständig über die Dauer seiner Verfahren, die er gerade verlängert hat, indem er – warum? – seine Konten in Liechtenstein nicht offenlegen will. „Ich lege alles offen. … Ich habe alles offengelegt“, so KHG in der Vergangenheit. Chuzpe.) Das Strafrecht als Zukunftsvorsorge im öffentlichen Auftrag – so also die Theorie der Gerechtigkeit.

Die Praxis sieht anders aus, auch wenn das der Präsident der österreichischen Staatsanwälte in der dieswöchigen Titelgeschichte – ab Seite 20 – bestreitet. Geht es nach Gerhard Jarosch, dann tragen objektive Gründe die Verantwortung für ein allfälliges Versagen der Justiz: zu wenig Personal – recht viel mehr ist von ihm nicht zu hören. Allzu viele vermurkste und verschleppte Fälle sprechen eine andere Sprache, und diese Sprache erzählt nur von den spektakulären Fällen, die es in die Medien schaffen. In Wahrheit ist Gerechtigkeit eine höchst subjektive Angelegenheit, die maßgeblich von persönlichen Motiven gesteuert wird: Staatsanwälte und Richter sind auch nur Menschen – und das ist ein pessimistisch stimmender Befund, eine gefährliche Drohung.

Selbstverständlich spielen schon bei der Berufswahl materielle Gründe eine große Rolle. Um es vorsichtig auszudrücken: Da lockt das Einkommen im Justizapparat in Relation zu Karrieren als Rechtsanwalt oder in der Privatwirtschaft nicht zwingend die Besten.

Apropos Karrieren: Selbstverständlich werden Urteile und noch viel mehr die Entscheidungen vor einer Anklage regelmäßig mit Seitenblick auf das persönliche Fortkommen getroffen. Wer hier den Gral der Unabhängigkeit vermutet, ist naiv. Es ist ja auch kein Zufall, dass Quereinsteiger in die Politik mit besonderer Häufung aus der Rechtsprechung kamen.

Viel regelmäßiger als ein Streben nach Karriere beeinflusst aber das Gegenteil die Rechtsfindung: Untätigkeit und Faulheit. Wer einmal im System drinnen ist, hat kaum Anreiz, die Mühlen der Gerechtigkeit durch Fleiß anzutreiben. Warum auch, wenn der Dienst nach Vorschrift dem Ansehen und dem Einkommen keinen Abbruch tut (und alles darüber hinaus, so erzählen Anwälte, nur den Unmut der Kollegen weckt)? Schließlich und auch kein Hinweis auf die Unabdingbarkeit präziser Arbeit: Wer will die Güte von Entscheidungen überprüfen, die per Definition sakrosankt sind und allenfalls von einer Instanz anders bewertet werden können?

Gibt es Gerechtigkeit in der Rechtsprechung? Wenn man das Glück hat, auf juristisches Personal zu treffen, das seine Tätigkeit nicht nur als Beruf sieht, sondern auch als Berufung, dann gibt es eine Chance. Einen Hinweis darauf, dass diese Chancen in Zukunft größer werden, liefert die österreichische Verfasstheit nicht. Das Vertrauen in die Justiz ist in den vergangenen Jahren spektakulär gesunken. Da hat die Bevölkerung einen guten Sensor.

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