Christian Rainer: Das Jahr des Freak Accident

Christian Rainer: Das Jahr des Freak Accident

Ein Zufall hat 2019 auf den Kopf gestellt. Als Hinweis auf das Fortkommen der Republik taugt das Ibiza-Video nicht.

Drucken

Schriftgröße

Selten, vielleicht niemals in der erlebten Vergangenheit hat sich die Verfasstheit der Republik Österreich so schnell so radikal verändert wie im vergangenen Jahr.

Mit der Erwartungshaltung des Dezember 2018 mutet die Realität des Dezember 2019 fantastisch an. Eine damalige Beschreibung der heutigen Zustände wäre vom Zensor wegen Unzumutbarkeit gestrichen worden.

Lähmungszustand

Vor einem Jahr bestimmte eine Regierung das Leben in Österreich, von der selbst ihr Vorsitzender später sagen würde, er habe „viel ertragen müssen“. Die Freiheitliche Partei arbeitete daran, die Unmenschlichkeit als bürgerlichen Konsens zu definieren; die Hetze war das Mittel der Wahl, um dieses Ziel zu erreichen. Wie zum Hohn wurde dieser Generalplan von einer Unzahl jener berüchtigten Einzelfälle begleitet, über die der erwähnte Vorsitzende ebenfalls später berichten würde, sie hätten ihn „viel Kraft gekostet“.

Sebastian Kurz trägt freilich nicht nur Verantwortung, weil er sich durch die Koalition mit der FPÖ in einen selbst gewählten Lähmungszustand begeben hatte. Ein guter Teil der Gesetze, die vom Verfassungsgerichtshof als rechtswidrig aufgehoben wurden, stammte aus seinem eigenen Fundus, den sich der Hardliner in Migrationsfragen im Laufe der Zeit als Antwort zurechtgelegt hatte.

Österreichisches Experiment

Die Welt blickte besorgt auf Österreich. Zwölf Monate später blickt sie wiederum, aber nun aus gegenteiligem Anlass. Das Land schickt sich an, eine konservativ-grüne Regierung zu bilden. Obwohl in Irland, Tschechien, Lettland und Finnland bereits in ähnlicher Konstellation zusammengearbeitet worden ist, wird das österreichische Experiment gerne als erste Möglichkeit einer derartigen Koalition bezeichnet – wohl weil die nordische parlamentarische Tradition ebenso wenig mit Mitteleuropa vergleichbar ist wie die lettischen Grünen mit den unseren.

Der nun wohlwollende Blick entspricht der Erleichterung, die das Ausscheiden der FPÖ hervorgerufen hat, innerhalb Österreichs nach den Erfahrungen mit eben dieser Koalition, im Ausland wegen der Furcht vor den jeweils eigenen rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen. Darüber hinaus entwickelt sich aber auch Neugier, ob hier eine Verbindung geschaffen wird zwischen scheinbar unüberbrückbaren Welten, die einander ergänzen können oder sogar müssen: zwischen durch Disruption entzweiten Generationen; zwischen dem Vertrauen auf die Kraft der Marktwirtschaft und dem Wissen um die Letalität des Klimawandels.

Im vergangenen Jahr hat sich also nicht nur Zerstörerisches zerstört: Davon unabhängig ist die Chance auf eine neue Anordnung der weltanschaulichen Lager entstanden.

Zufall Ibiza-Video

Aber: Wer an eine Zielgerichtetheit der Menschheit glaubt oder auf eine lineare Entwicklung vertraut, muss an 2019 verzweifeln. Es war nicht Vernunft, die Veränderung brachte, sondern ein Zufall, der Ibiza-Video heißt.

Die siebenstündige Aufzeichnung ist ein Freak Accident der Geschichte. Das Video war Jahre zuvor in einer ganz anderen politischen Konstellation entstanden. Heinz-Christian Strache war 2016 noch weit entfernt von jener Position, die er 2019 verloren hat. Der Zweck der Inszenierung war mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nicht das, was sie zur Folge hatte: Abweichend zum Beispiel von der Dekuvrierung der kriminellen Neigungen des ehemaligen Innenministers Ernst Strasser folgte das Video vermutlich keiner politischen Agenda, sondern war auf Erpressung und Geldbeschaffung ausgelegt. Man kann argumentieren, Strache und Johann Gudenus mussten zwangsläufig früher oder eben später über jene Charakterzüge stürzen, die sie im Ibiza-Video zur Schau stellen. Aber das ist ein schwaches Argument. „Eine b’soffene G’schichte“, sagt Volkes Stimme über die Unsäglichkeiten, und damit hat das Volk auch irgendwie recht.

Jedenfalls ist die türkis-blaue Regierung nicht über ihre Arbeit und ihre Philosophie gestürzt – Einzelfälle hin, Verfassungsgerichtshof her. Merke: Das Team Kurz-Strache hatte bis zuletzt hervorragende Umfragewerte, Volkes Zuspruch war seit der Nationalratswahl 2017 noch gestiegen. Daher gehorcht die Zeitenwende des vergangenen Jahres mitnichten einem Reifeprozess der österreichischen Bevölkerung oder einer Erkenntnis des damaligen Bundeskanzlers Kurz.

2019 war nur ein glücklicher Zufall. Ohne Ibiza-Video hätte uns die im Dezember 2017 angelobte türkis-blaue Koalition über zwei Perioden bis 2027 regieren können.

[email protected] Twitter: @chr_rai