Christian Rainer: Jahreswechsel

Vor einem Jahr wählten die Österreicher Sebastian Kurz zum Bundeskanzler. Was hat’s gebracht?

Drucken

Schriftgröße

Falls Sie die obenstehende Formulierung für mäßig korrekt halten: Die Österreicher haben Sebastian Kurz tatsächlich zum Bundeskanzler gewählt, auch wenn die Verfassung formal anderes vorsieht. Ja, der Bundespräsident ernennt den Kanzler, und er ist bei der Auswahl der Person frei. De facto nimmt der Bundespräsident auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament Rücksicht – was nicht unbedingt den Wahlsieger zum Regierungschef befördert, sondern denjenigen, der eine Koalition mit Unterstützung von ausreichend Abgeordneten zusammenbringt. Wie Wolfgang Schüssel im Jahr 2000.

Im aktuellen Fall war es freilich Volkes direkter Wille, Kurz mit der Verantwortung für die Geschicke der Republik zu betrauen. Das ist durch Umfragen gut belegt, und es zeigte sich auch in den gewaltigen Verschiebungen der Umfrageergebnisse, die alleine seine Nominierung zum ÖVP-Chef bewirkt hatte. In dieser Eindeutigkeit liegt der Unterschied zur ersten Auflage von Schwarz-Blau. Und darin ist wiederum der Grund für die verhaltene Kritik der Zivilgesellschaft an der Regierung Kurz-Strache zu suchen. Damals gab es naheliegende Alternativen zur Variante, den Drittplatzierten zum Kanzler zu machen. Dieses Mal hat eben der Gewinner gewonnen. Aber was hat er daraus gemacht?

Eine Beurteilung nach einem Jahr erschiene wenig seriös, wenn sie versuchte, einzelne Maßnahmen an ihren realen Auswirkungen zu messen. Wie wäre da etwa jenes Pädagogik-Paket zu beurteilen, das ich an dieser Stelle vergangene Woche heftig kritisiert habe und das Minister Heinz Faßmann in diesem Heft heftig verteidigt? Wenn schon beim Schnüren des Paketes keine empirischen Erkenntnisse eingeflossen sind, wie soll dann der Inhalt beurteilt werden, der überdies mangels Zeitablaufs ja noch gar keine Wirkungsmacht entfalten konnte? Wir müssen uns auf die Verpackung konzentrieren, in der das Paket ausgeliefert wird. Wie oft hat Faßmann die Worte „Chancengleichheit“ und „Durchlässigkeit“ verwendet? Selten oder gar nicht. Wie oft „Leistung“ und „Benotung“? Häufig und nachdrücklich. Angesichts dieser Öffentlichmachung entfaltet sich die Wirkung symbolisch; hier wird eine Aura von autoritärem Lehrwesen verbreitet und von Beharren auf gegebener sozialer Differenzierung. Ob der Politiker eigentlich anderes will, möglicherweise die Mittelschule klandestin als Weg zu einer Gesamtschule sieht, erschließt sich nicht.

In diesem Sinne muss das Jahr nach Symbolelementen durchkämmt werden. Das ist keine schwierige Aufgabe. Ist es verwegen oder nur eine abgegriffene Formulierung, von Symbolpolitik zu sprechen? Mir fällt an dieser Stelle gänzlich ungeordnet „Politik der Gefühle“ ein, der Essay, in dem Josef Haslinger das psychosoziale Unterfutter sondierte, das Wahlentscheidungen wie die für Kurt Waldheim möglich machte.

Ist es verwegen oder nur eine abgegriffene Formulierung, von Symbolpolitik zu sprechen?

Symbolisch ragt im vergangenen Jahr jener Familienbonus heraus, auf den der Kanzler besonders stolz war. Es wunderte wenig, dass die Familienpartei die Familie nach vorne förderte. Was jedoch schreckte: dass die Ärmsten mangels besteuerbaren Einkommens daran nicht teilhaben sollten; dass der Hinweis auf Herzlosigkeit patzig mit dem Hinweis auf die Leistungsträger abgetan wurde; dass per Gnadenerlass dann doch Geringverdiener einbezogen wurden – beschränkt auf Alleinerzieher und mit einem Bruchteil der Summe.

Symbolhaft jüngst auch eine Windung im Zentrum der schwarz-blauen Agenda: Asylwerber in der Lehre. Wird ihr Antrag abgelehnt, können sie ihre Ausbildung nicht beenden. Warum? Nicht weil das viele beträfe, die dann das Land mit ihrer Expertise in Mangelberufen überschwemmen würden. Es sind ganz wenige. Sondern weil der Vernunft oder Humanität nachzugeben bedeuten würde, dass die Regierung in der Flüchtlingsfrage Schwäche zeigte. Das geht nicht. Das Innenministerium bezeichnete ein humanitäres Bleiberecht folgerichtig als „nahezu denkunmöglich“. Ein ÖVP-Politiker erklärte mir, bei diesen Lehrlingen handle es sich fast immer um solche, welche die Lehre erst nach der Ablehnung begännen, versprach Beweise, lieferte sie aber nicht. Ein ehemaliger ÖVP-Politiker hingegen erzählt resignierend, die Kern-Mitterlehner-Regierung hatte ein Gesetz fertig ausformuliert, das genau jene Ausnahmen ermöglichen sollte.

Und dann die Außenpolitik: Durch ihr Wesen, durch die Flüchtlingsfrage, durch die EU-Präsidentschaft war sie die Kernzone des symbolischen Handelns dieser Regierung. Auch hier mündet die Beurteilung in einer Geschmacksfrage – Diplomatie ist erst recht nicht in betriebs- und volkswirtschaftlichen Einheiten zu messen. Was die Regierung in diesem Jahr vermittelt hat: Wien steht in Äquidistanz zu Berlin und zu Budapest, zu Washington und zu Moskau, zu Salvinis Italien und zu Macrons Frankreich. So musste es bei den Österreichern ankommen, ob Sebastian Kurz das wollte oder nicht.

[email protected] Twitter: @chr_rai