Christian Rainer: Merde alors!

Die europäischen Politiker geraten aneinander. Auch Kurz muss jetzt mit Strache streiten.

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„Merde alors“ („Scheiße nochmal“) warf der luxemburgische Migrationsminister dem italienischen Innenminister beim EU/Afrika-Gipfel in Wien entgegen. Der rechtsextreme Matteo Salvini hatte sich über den Sozialdemokraten Jean Asselborn mokiert, als dieser von der alternden Bevölkerung Europas sprach, die Zuwanderung brauche. Dass der Lega-Politiker damit einen Vergleich zwischen der Potenz von Italienern versus Luxemburgern zog, ist mehr als nur eine Vermutung.

Die Verständigungsebene der europäischen Politiker ist also unter die Gürtellinie gesunken. Und das ist gut so.

Einen Augenblick lang hatte ich überlegt, ob es angebracht ist, Salvini „rechtsextrem“ zu nennen. Da fiel mir ein, dass dieser eine „Rassentrennung“ von Italienern und Einwanderern in Eisenbahnwagen gefordert hat. Warum sollte ich die Dinge nicht beim Namen nennen, wie es einige europäische Politiker nun endlich ebenso tun? Der ehemalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz etwa. Er rief dem AfD-Chef im Deutschen Bundestag vergangene Woche entgegen: „Herr Gauland, Sie gehören auf den Misthaufen der deutschen Geschichte.“

Die Menschen in Europa müssen sich dabei hintergangen fühlen, weil sie ja über die wahren Verhältnisse getäuscht werden.

Aber auch abseits von spontanen Ausdrücken des Missfallens ist jüngst etwas in Bewegung geraten. Das EU-Parlament leitete am Mittwoch ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn ein, weil das EU-Mitglied im Verdacht steht, „die Grundwerte der Union zu verletzen“. Gegen Polen war die EU-Kommission schon im Dezember 2017 tätig geworden und hatte wegen der umstrittenen Justizreformen ein Verfahren eröffnet.

Das ist alles heilsam. Über Jahre und Jahrzehnte ist herumgeredet worden, wo doch alles eindeutig war. Hinter verschlossenen Türen flogen Fetzen, während in der Öffentlichkeit beteuert wurde, dass man allenfalls unterschiedliche Standpunkte vertrete. Die Menschen in Europa müssen sich dabei hintergangen fühlen, weil sie ja über die wahren Verhältnisse getäuscht werden. Man beleidigt sie überdies, weil man sie auch noch für zu dumm hält, das zu durchschauen.

Zwischen der Schwurbelei und der Beschwichtigerei, den Worthülsen und den Stehsätzen gehen alle Orientierungspunkte und alle Sicherheiten verloren.

In einem derartigen Biotop kann niemand einen klaren Gedanken fassen. Zwischen der Schwurbelei und der Beschwichtigerei, den Worthülsen und den Stehsätzen gehen alle Orientierungspunkte und alle Sicherheiten verloren. Wer da in Europa oder innerhalb eines Landes wofür steht, ist längst nicht mehr erkennbar. Der Europäische Rat zum Beispiel gab noch zu Protokoll, dass man in der Migrationsfrage an einem Strang ziehe, während die Regierungschefs nicht einmal mehr miteinander verhandelten. Auch laufen vertikal durch Europa Schützengräben zwischen den alten EU-Mitgliedern und den ehemaligen Sowjettrabanten. Völlig unterschiedliche Wertehierarchien herrschen da und dort, aber für die Außensicht wird das Bild eines geeinten Kontinents gepinselt – als hätten zum Beispiel Macron und Orbán mehr gemein als vier Buchstaben im Namen.

Die neuen Umgangsformen sind außenpolitisch pikant für Österreich, und es steckt auch innenpolitische Sprengkraft darin. Das Verfahren mit Ungarn muss unter österreichischer Präsidentschaft in die richtigen Gänge gebracht werden – beziehungsweise richtig in die Gänge. Dabei war es doch Sebastian Kurz, der sich wie kein anderer Staatsmann stets geweigert hat, Viktor Orbán zu kritisieren, auch nur zwischen dessen Haltung, seiner eigenen und jener Angela Merkels zu differenzieren. Jetzt ist der Kanzler auf Distanz gegangen. Seine Abgeordneten stimmten in Brüssel für das Ungarn-Verfahren. Sie werden gegebenenfalls auch den Ausschluss von Orbáns Partei Fidesz aus der gemeinsamen Faktion absegnen. Kurz, der Brückenbauer mit Äquidistanz zu allen Ufern, ist nun gezwungen, sich dem Westen zu verpflichten.

Die FPÖ stellt sich gegen die Volkspartei und bezieht an der Seite jenes Matteo Salvini genüsslich Position für Orbán.

Das gerät ihm in der Folge zur bisher größten Koalitionskrise. Die FPÖ zündelt. Sie stellt sich gegen die Volkspartei und bezieht an der Seite jenes Matteo Salvini genüsslich Position für Orbán. Bei einem Treffen mit Salvini in Wien am Freitag erklärte Heinz-Christian Strache – auch er frei von der Leber –, man müsse Orbán „Respekt und Dank zollen“. Die FPÖ wolle aber auch die Zusammenarbeit mit Salvinis – rechtsradikaler – Lega „weiter vertiefen oder ausbauen“. Salvini wiederum: „Ich bin überzeugt, dass wir in einigen Monaten gemeinsam mit Orbán regieren werden.“ (Vermutlich nicht in Ungarn, aber in Brüssel.)

Strache, Salvini, Orbán, ein Trio Infernale – da kann die ÖVP nicht mehr mit. Jetzt muss Kurz dann doch mit dem Koalitionspartner zu streiten beginnen. So wächst die Krise Europas zu einer Krise zwischen Schwarz und Blau heran.