Christian Rainer: Ein pragmatischer Imperativ

Christian Rainer: Ein pragmatischer Imperativ

Drucken

Schriftgröße

In der Flüchtlingspolitik geschehen weder Zeichen noch Wunder, und es nimmt Wunder, dass sich die informierte Öffentlichkeit darüber wundert. Selten durfte ein zeitgeschichtlicher Vorgang derart erfolgreich als Versuchsanordnung dienen, in der sich als Abstraktion Erahntes an der Realität misst.

Die Drehungen und Wendungen im Verhältnis der Europäer zu den Asylsuchenden über die vergangenen zwölf Monate sind ein Lehrstück für die Politik des Unmöglichen versus das Machbare: Da wurde vieles versucht, ist einiges gelungen, der Rest ist am Scheitern. Daher mussten die Parameter geändert werden, was zu einem anderen als dem ursprünglich erhofften Ergebnis führt. Wer sich daran reibt und den Handelnden Biegsamkeit vorwirft, verkennt den Charakter von Strategie und Planung – zwei Begriffe, an denen sich deutsche Intellektuelle derzeit abarbeiten im Streben um die Deutungshoheit der Politik Angela Merkels.

Die mangelnde Planbarkeit wirft alle Strategie über den Haufen, wenn 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union widerstrebende Interessen vertreten, die auf unterschiedlichen Gegenwarts- und Vergangenheitsbildern basieren, aber auch auf so simplen Gegebenheiten wie der geografischen Verortung. Der Haufen wird noch einmal umgepflügt, wenn sich die Annahmen über den Antrieb und die Befindlichkeiten der Flüchtlinge als unzutreffend erweisen, wenn sich herausstellt, dass nicht die Bedürftigsten kommen, sondern die Beweglichsten, wenn Köln paradigmatisch manifestierte, dass die Gesellschaftsbilder der Hiermenschen und der Dortmenschen nicht weiter auseinanderliegen könnten.

Der Verteilungsmechanismus scheiterte an Nationalismus und der Freiwilligkeit. Die Flüchtlinge kamen in größerer Zahl als angenommen (und nicht mit Elmayer-Umgangsformen, wie wohl erwartet worden war).

Natürlich durfte man – Merkel und Faymann, Humanismus und Journalismus – das Machbare auf die Probe stellen, indem alle Flüchtigen eingeladen wurden, ihr Flüchten in Europa zum Ende zu bringen. Ja, man musste diese Haltung, die inzwischen höhnisch denunzierte Willkommenskultur, sogar einnehmen, weil sie den Zielen und den Werten der Union entspricht, wenn schon nicht ihrer belastbaren Befindlichkeit. Aber ebenso musste diese Haltung geändert werden, als die Entwicklungen die Erträglichkeiten überrannten. Osteuropa mit kommunistischem Erbe als Traum und Trauma erwies sich als gar nicht belastbar, ebenso wenig Griechenland. Der Verteilungsmechanismus scheiterte an Nationalismus und der Freiwilligkeit. Die Flüchtlinge kamen in größerer Zahl als angenommen (und nicht mit Elmayer-Umgangsformen, wie wohl erwartet worden war).

Wenn sich die Umstände ändern, wenn das Boot gefüllt ist wie in Österreich, muss die Politik geändert werden. Österreich mit einer radikal rechten Mehrheitspartei und engen Strukturen musste da schneller sein als das große, gemäßigte Deutschland. Aber wer meint, dass von Anbeginn weg Härte hätte regieren sollen, der hätte sich an jenem Anbeginn am damals menschlich Machbaren vergriffen. Wer behauptet, dass vor einem Jahr strategisch planbar war, was nun Notwendigkeit wurde, will nur politisches Kleingeld schlagen. Und wer noch immer fordert, die Grenzen seien gleich wieder zu öffnen, ist schlichtweg naiv.

So naiv im Übrigen wie alle, die sich nun an einem Deal mit der Türkei erregen. Hier verbindet sich die Naivität freilich mit Zynismus in fließendem Übergang. Meister dieses Übergangs war stets Alfred Gusenbauer. Er lässt sich auch dieses Mal nicht lumpen, wenn er zynisch den Pragmatikern Zynismus unterjubelt und uns in einem Essay für die „Kleine Zeitung“ wissen lässt: „Der angedachte Deal mit der Türkei ist kurzsichtig, zynisch und moralisch verwerflich. Die Türkei befindet sich auf dem besten Weg zu einem autoritär-islamistischen Staat.“ Das schreibt jener Mann, der vom kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew Geld nimmt, um ihn als guten Demokraten zu verkaufen.

Die Verhandlungen mit der EU seien „kein Kuhhandel“, sagte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu am vergangenen Freitag. Natürlich sind sie genau das. Aber Europa hat auch hier keine Alternative dazu, den Kompromiss zwischen Gutem und Machbarem einzugehen. Politik ist keine gerade Linie, und der Pragmatismus ist ein Imperativ. Wir danken Herrn Davutoğlu jedenfalls, dass er diese Kuh gleich bei den Hörnern nahm.