Warum sich auch Atheisten eine Meinung über den Weg der katholischen Kirche machen müssen

Christian Rainer: Mutterunser

Mutterunser

Drucken

Schriftgröße

Er verteile in den Pausen Kekse und bei den Debatten höre er zu. Ein Mensch wie du und ich sei er also, das soll die Beschreibung der Tätigkeiten von Papst Franziskus während der laufenden Bischofssynode signalisieren.
Was schert uns, was der alte Mann im Vatikan tut, werden Sie fragen, das interessiere ja nicht einmal mehr die Katholiken, geschweige denn Agnostiker oder Atheisten oder Baumverehrer. Stimmt. Aber mal angenommen, genau darin liege ein Problem …

Tatsächlich sind die bürokratischen und intellektuellen Verzweigungen der Amtskirche weit entfernt vom täglichen Leben der Bürger dieses Landes. Das gilt nicht nur für die Bobo-Bezirke der Bundeshauptstadt, auch zwischen Wels und Wulkaprodersdorf kümmert niemanden, was die Synodierer, die Konklavierer, die Konzilisten denken, beschließen, vorschreiben. Selbst für die lokale Geistlichkeit sind Bischof und Papst in großer Ferne verortet; der Pfarrer predigt seine eigene Theologie und lebt seine eigene Moral. Verhütung, Keuschheit, Wiederverheiratung, Zölibat, Homosexualität? Wen interessiert’s! So lange es keine Wellen schlägt, wird die gottlose Göttlichkeit von den hohen Herren im Bistum geduldet. Oder kennt irgendjemand irgendeinen, dem die Kommunion verweigert wurde, weil der den dritten Ehering am Finger trägt? Wo ist der Kaplan, der nicht mehr Messe lesen darf, weil seine schwangere Freundin in der dritten Bankreihe ein Mutterunser betet?

Warum also sollten wir uns darüber Gedanken machen, zumal die Kirche selbst einen inneren Waffenstillstand geschlossen hat, zumal die Duldung der Ungeduldigen längst zum real existierenden Katechismus wurde?

Erstens: Ich denke, es tut keiner Gesellschaft gut, wenn 60 Prozent ihrer Mitglieder zwei widersprüchliche Wahrheiten zur Grundlage ihres geistigen Wohlbefindens machen müssen. Im besseren Fall ist das für jeden Einzelnen anstrengend, im schlechteren löst die Ambivalenz Lebenskrisen aus; zwischen permanentem Stress und affektiver Störung siedelt die Psychiatrie solche Lebenssituationen an. Dass die mehrheitlich gelebte Doppelmoral nicht als stabiles Fundament eines Landes belastbar ist, scheint naheliegend. Sie steckt darüber hinaus den Rest der Gesellschaft an. Die intime Lüge als ständiger Wegbegleiter im öffentlichen Raum, das zermürbt, zersetzt oder macht zynisch, macht die Mächtigen ohnmächtig und die Ohnmächtigen zur falschen Zeit wach.

Zweitens und vielleicht eine Vorgeschichte zu erstens: Natürlich hat die katholische Kirche auch eine gewaltige positive Wirkung – abseits von wissenschaftswidrigen Glaubenssätzen, von archaischen Riten, von Herrschaft signalisierenden Gotteshäusern. So viel sollten wir religiös Desinteressierten, Agnostiker und Atheisten ihr zugestehen. Das gilt in guten Momenten, wenn Seelsorge zu ersetzen versucht, was teure Therapie nicht leisten kann; wenn Caritas nottut, wo hilflose Politik nicht gegen die Marktwirtschaft antreten will; wenn selbstlose Gläubige in den schlimmsten Ecken der Erde Elend ausputzen. Es gilt aber auch in schlechten Tagen: Was passiert, sobald sich der Irrsinn mit den Mitteln einer Religion breitmacht, führt die IS im sehr nahen Osten vor, zeigten al-Kaida-Piloten am ideologischen Sammelpunkt des Westens. Um dem Einhalt zu gebieten, braucht es auch vernünftige religiöse Führer.

(Der flammende Atheist Christopher Hitchens hätte hier angemerkt, dass eine gottfreie Welt gar nicht erst mit religiös unterfütterter Gewalt konfrontiert wäre. Geschenkt – angesichts der realen Verhältnisse!)

Drittens, eine Folgerung aus zweitens und zurück zur Synode: Seit Jahren und Jahrzehnten besteht das Bild der katholischen Kirche eben nicht aus der Beschreibung des durchaus positiven Normalfalls. Die Berichterstattung ist einerseits geprägt von öffentlich aufplatzenden Missbrauchsblasen. Da ist die Kirche in der Defensive, leistete erst gar nicht, dann zögerlich, dann gezwungenermaßen massiv Vergangenheitsbewältigung. Irgendwann wird das überwunden sein. Vor allem aber dreht der Diskurs –andererseits – immerwährend um die Themen, die nun in Rom behandelt werden, um die Sexualmoral: Verhütung, Keuschheit, Wiederverheiratung, Zölibat, Homosexualität (angereichert um den inhaltsverwandten Ruf nach weiblichen Priestern).

Das belastet – wie beschrieben – die Einzelnen und damit die Gesellschaft. Doch mit Verlaub: Im Vergleich zur Aufgabenfülle einer Kirche sind das Nebenthemen. Und die könnten daher endlich im Sinne der längst liberalen Realität erledigt werden.

[email protected]