Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer: Nahkriegserfahrungen

Nahkriegserfahrungen

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Kiew liegt bekanntlich nicht weiter von Wien entfernt als Paris und näher als Athen; die Distanz von Wien zur ukrainischen Grenze entspricht jener nach Vorarlberg. Das wird angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Kiew derzeit von allen und für alle in Erinnerung gerufen, die von der Ukraine erst- und letztmals im Zusammenhang mit einem Fußballgroßereignis gehört hatten. Wir fügen für darüber hinaus einschlägig Interessierte hinzu, dass die historischen Verbindungen zur Ukraine enger und vielfältiger sind als zur Schweiz, worüber nur Sprachbarrieren und Jahrzehnte mit Eisernem Vorhang hinwegtäuschen. Und auch, dass Österreich einer der ersten Anknüpfungspunkte für Ukrainer im – hier passt das Wort wirklich – „sogenannten“ Westen ist (wenn nicht der überhaupt wichtigste), sei es als Fluchtpunkt für ökonomische und politische Opfer der örtlichen Scheindemokratie, sei es als Geldspeicher für die Profiteure jenes Systems.

Diese geografische und geistige Nähe eines derartigen Konflikts alleine darf uns schon zu denken geben. Und wenn das Abkommen zwischen Opposition und Präsident Viktor Janukowitsch zur Eindämmung der Kämpfe, zu einer Art Waffenstillstand führt – danach sah es am Freitagabend aus –, dann kommen weitere damit verbundene Überlegungen hinzu.

Falls die oben stehenden Ausführungen dröge anmuten und weitere Langatmigkeit erwarten lassen: Genau so haben Österreichs Innenpolitiker über die Notwendigkeit einer Außen- und Sicherheitspolitik bisher wohl auch befunden, entsprechende Überlegungen daher hintangereiht oder gleich ganz unterlassen. Macht nichts, es geht ja nur um eine Risikoanalyse der ihnen anvertrauten Republik. Oder, anders gesagt, darum, unter welchen Umständen ein kriegerischer Konflikt eine oder mehrere Grenzen bis nach Österreich überschreiten könnte. Und sogar um die Frage, ob die Paarung von wirtschaftlicher Not und korruptem Personal eine demokratische Verfassung aushebeln kann.

Der Ernstfall Ukraine ist da nur ein Erinnerungsstein, eine Warnung vor einem möglichen Szenario, ein Hinweis darauf, dass 69 Jahre Frieden ein Zufallsprodukt sind, mit dem einige Generationen in Westeuropa beschenkt wurden. Direkt übertragbar sind die Vorgänge nicht. Die Unruhen in Kiew werden sich mangels Zunder nicht als Flächenbrand über die Slowakei bis nach Wien ausbreiten; und der innere Frieden in Österreich ist etwa so gefährdet wie der Weißwein als Hauptnahrungsmittel der Niederösterreicher. Dennoch: Der Zehn-Tage-Krieg in Slowenien vor kaum 23 Jahren hätte schnell auf Österreich übergreifen können, an den Grenzübergängen wurde – auf slowenischer Seite – gekämpft und getötet. Und auch: Wer garantiert zum Beispiel für die friedliche Verfasstheit Ungarns, das eben noch als 1-A-Demokratie gegolten hat? So viel zu Flächenfeuer. (Die Frage, ob Österreich selbst auf alle Zeiten gegen einen inneren Krieg gefeit ist – etwa bei 50 Prozent Arbeitslosigkeit und dann wohl mit einem FPÖ-Kanzler an der Spitze –, wollen wir hier nicht behandeln. Oder einfach mit „Nein“ beantworten.)

Die mörderischen Verwerfungen in unmittelbarer Nähe führen zurück zu der Feststellung: Österreich hat seine Außen- und Verteidigungspolitik nicht vernachlässigt, sondern gleich komplett negiert. Die Neutralität ist nur mehr feige Ausrede eines Trittbrettpassagiers; Fahrschein vergessen. 1000 Blauhelme sind eine verschämte Ersatzhandlung; nein, eine unverschämte. Die Abfangjäger haben sich längst als Vorwand erwiesen: ein Vehikel zur Industrie- und Parteienfinanzierung; ein fluguntaugliches überdies.
Aber der Fall Ukraine beweist, dass internationale Politik notwendig ist. Da soll sich kein Staat rausstehlen, rauskaufen. Wenn das halbwegs hält, was jetzt ausverhandelt wurde, zeigt sich auch: Gerade in der Außenpolitik kommt es auf Persönlichkeiten an. Da hätte der trittsichere Frank-Walter Steinmeier mit Frau Merkel im Rücken etwas geschafft, was dem blassen Herrn Westerwelle nicht geglückt wäre. Und die EU hätte ihre Berechtigung abseits ökonomischer Argumente nachgewiesen, zumal nicht ganz zufällig mit dem französischen und dem polnischen Außenminister eine militärische Supermacht und ein Nachbar der Ukraine mitverhandelt haben.

Zurück nach Österreich. Vergessen Sie die Ambitionen des Verteidigungsministers! (Der taugt zum Waffenmeister.) Aber das größte Talent der Innenpolitik sitzt jetzt im Außenamt. Sein nicht uneitler Umgang mit dem neuen Amt lässt hoffen. Vielleicht will er ja nicht nur geschmeidig weiter Karriere machen. Vielleicht ist sein Ehrgeiz ja doch so differenziert, dass er der österreichischen Außenpolitik zuvor noch Konturen gibt.

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