Christian Rainer: Ein recht extremer Ruck
Nur vier Mal in den 72 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Österreich die größte Partei durch eine andere Partei vom ersten Platz verdrängt. Zum vierten Mal geschah es an diesem Sonntag, und alleine das macht diese Wahl zu einem gewaltigen Ereignis, je nach Perspektive zu einer Sonnenfinsternis oder zu einem Kometen, jedenfalls zu einem jener Momente im Leben, an die man sich erinnert. Man weiß, wo man saß und mit wem, erinnert sich an Atemlosigkeit und Stille, als die Balken der ersten Hochrechnung auf einem Bildschirm aufstiegen, und man hat die ersten Worte im Ohr, die danach gewechselt wurden.
Aber der Seltenheitswert von vier aus 72 ist eine relative Größe, die Perspektive eine Nebensache, wenn zugleich eine rechtspopulistische Partei mit deutschnationalem Geschichtsverständnis so stark wird, dass sie fast auf Augenhöhe mit der bisherigen Kanzlerpartei um den zweiten Platz ringt, ja dass im Laufe des Wahltags auf Basis von Einzelergebnissen sogar stundenlang unklar blieb, ob nicht diese Partei, die FPÖ, zur führenden Kraft in Österreich wird.
Und dann doch wieder: Sebastian Kurz hat diese Wahl gewonnen. Das ist ein ephemerer Satz, der nicht einmal im Ansatz beschreibt, was da in den vergangenen Monaten passiert ist. Die ÖVP hat ja nicht nur die SPÖ an der Spitze abgelöst. Vielmehr hat Kurz innerhalb weniger Monate und praktisch im Alleingang die Wählerzahl, von den Umfragewerten seines Vorgängers ausgehend, um die Hälfte vergrößert. Den „Kurz-Effekt“ nannte profil das auf seiner Titelseite, als sich die Zahlen in den ersten Meinungsumfragen manifestierten. Und das ist ihm gelungen, obwohl er in Christian Kern einen Gegner hatte, der ihm intellektuell und im Popstargehabe ebenbürtig war. Auch hier die Erinnerung an einen profil-Cover, auf dem wir die beiden unter „Europas beste Politiker“ reihten.
Diese Wahl kennt also Sieger, Volkspartei und Freiheitliche, und sie kennt einige Verlierer. Der Wechsel als solcher, die ungeheure Beweglichkeit der Wähler, ist ein Sieg der Demokratie. Die in Westeuropa einzigartige Stärke einer rechtspopulistischen Partei ist nicht deren Niederlage, aber sie ist bedenklich, weist einmal mehr auf die Randlage Österreichs auf der geografischen wie geistesgeschichtlichen wie soziokulturellen Achse hin.
Was sich hier wie das Resümee eines Wahlgangs liest, muss vielmehr erst noch zur Frage führen, wie Österreich in Zukunft zu regieren ist. Nach ihren Motiven gefragt, antworten die Wähler bei allen Abstimmungen von Trump bis Brexit, in Frankreich wie Deutschland mit dem unschuldigen Wort „Wechsel“ und dem ganz und gar nicht unschuldigen Wort „Ausländer“. So ist es natürlich auch bei diesem Anlass: Peter Hajek hat erhoben, dass die FPÖ wegen ihrer Asylpolitik gewählt wurde und die Volkspartei wegen des Wechsels zu Sebastian Kurz, in enger Verbindung mit dessen Migrationsrhetorik.
Bis vor einigen Jahren hätten politische Kommentatoren aus dieser Gemengelage vermutlich den Schluss gezogen, dass man gegenhalten müsse und diese Motive bekämpfen. In der Migrationskrise des Jahres 2015 haben wir allerdings dazugelernt: Man kann die Emotionen der Menschen nicht beiseite schieben, und seien sie noch so fieberhaft. Für die Frage, was nun folgen soll, müsste das heißen: Kurz und Heinz-Christian Strache, schwarz und blau, die sehr restriktive Ausländerpolitik, der Wechsel im Sinne des Austauschs von Kanzler und Vizekanzler.
Bedenken ergeben sich beim Blick auf das Personal, das den Freiheitlichen zur Verfügung steht. Da sind wenige qualifiziert für ein Ministeramt oder auch nur für Helferdienste, viele sind nicht über jeden Zweifel erhaben, manche über keinen Zweifel. Am desaströsen bis kriminellen Charakter der Akteure scheiterte die FPÖ im ersten Anlauf ab dem Jahr 2000. Hinzu kommt mächtig: Die engen, auch institutionellen Verbindungen der FPÖ zu den rechtsradikalen Parteien in Europa sind unerträglich. Die müssten wir dann aber ertragen.
Und Schwarz-Rot? Beim offensichtlich entscheidenden Motiv, der Migration, unterscheiden sich die Parteien nicht, bei der Integration nur wenig. Die Differenzen der Steuerpolitik sind in Millimetern zu messen, die Erbschaftssteuer war nur Kampagnengetöse. Die Abweichung in Budget- und damit volkswirtschaftlichen Fragen erscheint hingegen beträchtlich, sie ist im redlichen Kompromiss eigentlich nicht überbrückbar.
Vor allem aber zweifle ich daran, dass die menschlichen Zerwürfnisse zu glätten sind. Der Hass von Kern gegenüber Kurz war seit Beginn manifest, mit der Affäre Silberstein hat er sich auch in die andere Richtung groß entwickelt. Kongruent dazu metastasierten die Beziehungen auf allen anderen Ebenen der Parteien.
Schade eigentlich. Zwei der besten Politiker Europas … aber das schrieb ich schon vergangene Woche.