Christian Rainer: Relotius ist nicht überall

Christian Rainer: Relotius ist nicht überall

Leitartikel: Eine Geschichte von Fälschungen und Übertreibungen.

Drucken

Schriftgröße

Die Titelseite des „Spiegel“ vom 22. Dezember 2018 trägt in fetten Buchstaben auf orangem Untergrund die Zeile „Sagen, was ist“. Das ist der Werbeclaim des deutschen Nachrichtenmagazins. In diesem Fall signalisiert der Satz jedoch eine Selbstanklage: „Der Spiegel“ berichtete in der letzten Ausgabe des vergangenen Jahres von einem Fälschungsskandal in den eigenen Reihen. Der „Spiegel“-Redakteur Claas Relotius hätte in zumindest 14 von rund 60 Geschichten, die zwischen 2011 und 2018 veröffentlicht worden waren, Begebenheiten, Orte, Zitate und Gesprächspartner erfunden oder verfälscht dargestellt. Das war eine erste Bilanz der Redaktion, die weitere Aufklärung versprochen und eine Untersuchungskommission eingesetzt hat.

Was bedeutet der Skandal für den Journalismus, was für profil?

Die Aufregung war und ist also groß. Wie konnte der 33-jährige Reporter seine Artikel an der berüchtigten „Spiegel“-Dokumentationsabteilung vorbeischummeln, warum wurden die Geschichten mit Auszeichnungen überhäuft? Was bedeutet der Skandal für den Journalismus, was für profil?

Beginnen wir mit profil! Relotius hatte nämlich nicht nur im „Spiegel“ veröffentlicht, sondern zuvor schon als freier Journalist in vielen anderen Medien. Wie von uns berichtet auch in diesem: profil druckte zwischen 2011 und 2013 fünf Interviews ab, die Relotius geführt hatte. Wir haben bis heute zwar keinen Beleg für Fälschungen gefunden, wir können diese aber auch nicht ausschließen. Das liegt schon daran, dass einer der Gesprächspartner verstorben ist: der französische Anwalt Jacques Vergès, mit dem Relotius für die Ausgabe vom 6. April 2012 gesprochen hatte.

Den ehemaligen EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet hingegen haben wir erreicht, und er hat das damals gedruckte Interview als einwandfrei bestätigt. Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle wiederum schreibt mir, dass er keinen Hinweis auf erfundene Textteile hat, was aber daran liegen mag, dass er sich nicht genau erinnern kann: „I do many interviews and do not remember them all, obviously. I have glanced at the headlines here and they look all right.“ Auch die Antwort des bosnischen Filmemachers Emir Kusturica an Ressortleiter Stefan Grissemann ist bedingt aussagekräftig: „This is compilation of my interweaves. I am not sure he was given this talk (sic).“ Unter Umständen hat Relotius hier also Antworten aus mehreren Interviews selbst zusammengefügt – oder auch nicht. Gescheitert sind wir schließlich daran, den nordkoreanischen Flüchtling Shin Dong-hyuk zu kontaktieren, um ihn zu fragen, ob ein Gespräch mit Relotius in der 2013 abgedruckten Form stattgefunden hat. Die Person Shin Dong-hyuk ist jedenfalls nicht erfunden.

Schwierige Verifizierung

Schwierig bis unmöglich ist die Verifizierung auch aus folgenden Gründen: Vermutlich vier der Texte waren Zweitverwertungen von fast zeitgleich in der schweizerischen „Weltwoche“ erschienenen Interviews – deren Chefredaktor Roger Köppel sagt mir, er habe bisher keinen Hinweis auf eine Fälschung. Darüber hinaus: profil beharrt bei allen Interviews auf Autorisierung durch die Gesprächspartner. Im angloamerikanischen Raum ist das jedoch unüblich und bei Kulturschaffenden oft unerwünscht, was eine Verifizierung einzelner Passagen nach vielen Jahren unmöglich macht. Relotius selbst hat auf Anfragen nicht geantwortet. Und die „Spiegel“-Chefredaktion hat auf unsere Bitte um Unterstützung nicht einmal reagiert, was wir als ungehörig empfinden.

Nochmals zusammenfassend: Über den Generalverdacht hinaus haben wir keinen Hinweis auf eine Fälschung. Falls sich Relotius nicht selbst erinnert und äußert, werden wir zu keinem endgültigen Ergebnis kommen. Die fünf Interviews werden wir mit einem entsprechenden Hinweis online verfügbar halten.

Was bedeutet die Relotius-Affäre also? Ich meine: Sie bedeutet weniger, als die dicken Lettern auf dem „Spiegel“-Cover suggerieren. Die Kollegen in Hamburg sind von eitler Selbstbespiegelung getrieben. So wurde auch jener erste Text rezipiert, mit dem der „Spiegel“ online berichtete: Statt kühl die Fakten darzulegen, las man eine literarisch angehauchte Reportage.

Fakten, Fiktion und Hygiene

Die Fakten sind: Einer von Tausenden Redakteuren im deutschsprachigen Qualitätsjournalismus – allerdings ein prominenter – hat innerhalb von acht Jahren eine zweistellige Anzahl von Texten ganz oder teilweise erfunden. Die eigene Redaktion und die Mitglieder diverser Jurys haben das trotz großen Aufwands und redlichen Bemühens nicht bemerkt. Niemand außer Relotius selbst hat vorsätzlich gehandelt, niemand grob fahrlässig, niemand sonst wollte Unwahrheit verbreiten oder schöne Fiktion als Journalismus verkaufen. Wir sprechen über einen Fall, der in dieser Dimension vielleicht einmal pro Jahrzehnt vorkommt. Der Vergleich mit den „Hitler-Tagebüchern“ des „Stern“ ist unangemessen, auch weil die inhaltliche Relevanz der Fälschungen vergleichsweise gering ist.

Für die Hygiene einer sensiblen Branche ist es dennoch unabdingbar, dass die Angelegenheit vom „Spiegel“ transparent dargestellt wird. Aber es ist auch schädlich für das Ansehen des Journalismus, dass der „Spiegel“ über das Ziel hinausschießt. So könnte die Öffentlichkeit nämlich vermuten, selbst in Redaktionen von Qualitätsmedien herrschten keine anderen ethischen Standards als sonst wo, es gäbe kein stärkeres Verlangen, Wahrheiten herauszufinden und publik zu machen. Eine derartige Vermutung wäre ein Irrtum.