Christian Rainer: Wie gefährlich ist die Lage?
Zwei Buchempfehlungen: Stefan Zweig „Die Welt von gestern“ und „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Sie kennen die Texte, aber in diesen Tagen ist es sinnvoll, sie noch einmal zu lesen. Zweig beschreibt mit der Distanz mehrerer Jahrzehnte aus der Erinnerung und eben vor einem weiteren Weltkrieg geflüchtet über lange Passagen, wie die Staatengemeinschaft in den ersten großen Krieg stolperte: Komplexe verspannte Beziehungen zwischen Völkern und Volksgruppen, die eben noch friedlich neben- und miteinander gelebt hatten, führen zu groben Brüchen. Ein zeitlich und geografisch besonders unglücklich verortetes Attentat. Miteinander eng verbundene, verwandte und dennoch misstrauische Herrscherhäuser. Die Diplomatie versagt oder agiert mit Eigeninteressen. Das Militär organisiert ein partikulares, abgekoppeltes Machtspiel. Und während Menschen aus den späteren Feindesländern einander 1914 noch friedlich an Urlaubsorten und in den Hauptstädten begegnen, nimmt die Geschichte ihren Lauf, die Dinge eskalieren eher unerwartet, der Erste Weltkrieg bricht aus.
Remarque schildert den Zeitenlauf ähnlich, beschreibt den kurzen Moment des patriotischen Aufwallens und das millionenfache Krepieren auf allen Seiten. Da glaubt Remarque auch einen markanten Unterschied zum Jahr 1939 zu sehen: Am Beginn des Zweiten Weltkrieges sei die Erinnerung an die Gräuel des Ersten noch so deutlich gewesen, dass die Männer sich nicht mit Stolz und Lust vorgedrängt hätten, um Deutschland unter Waffen zu dienen.
Ein langer Exkurs zur Einleitung. Warum? Weil Parallelen zur Gegenwart augenscheinlich sind: ohne dass wir den Blick über die Maßen schärfen müssten, also ohne Panikmache zu betreiben.
Beginnen wir mit dem zuletzt Erwähnten! Der weitaus größte Teil der europäischen Bevölkerung hat keinen Krieg erlebt. 70 Jahre Frieden. Die persönliche Erfahrung mit Gewalt und gewaltsamem Tod beschränkt sich auf banale Dinge wie Kriminalität und Verkehrsunfälle. Vielleicht liegt es daran, dass der Konflikt zwischen Russland und dem Westen gerade mal zu akademischem Diskurs führt, auch das nur, wenn sich die Gespräche über „Vorstadtweiber“ und Ski-Weltmeisterschaft erschöpft haben, jedenfalls keine spürbare Besorgnis oder gar Angst vor einem Weltkrieg aufkommt.
Sollte aber. Seit einem Jahr wird stellvertretend für einen offenen Krieg um das jeweils andere Territorium in der Ukraine gekämpft. Da beschießen und töten einander veritable russische Soldaten und die Streitkräfte der Ukraine, eines Staates, der sich dem Westen zugehörig fühlt, der umgekehrt von der Europäischen Union und den USA als Schutzbefohlener angesehen, angesprochen und verbal verteidigt wird. Hier führen also die ehemaligen Antipoden des Kalten Krieges einen heißen Krieg. Würde der Westen der Ukraine Waffen liefern – und dann wohl auch die ominösen Militärberater –, dann stünden sich de facto die jeweiligen Armeen gegenüber, wenn auch auf fremdem Grund und Boden.
Man rufe sich darüber hinaus in Erinnerung, was in Vergessenheit geraten ist: Russland verfügt über ein riesiges Arsenal an Nuklearwaffen, die – schlecht gesichert und gewartet – jederzeit einsatzbereit wären. Und das bereitet niemandem gröbere Sorgen?
Erlauben Sie mir hier einen anderen historischen Vergleich! In der Kubakrise 1962 führten geringere Provokationen – im Vorhof der USA, nicht Europas – beinahe zur nuklearen Auslöschung der Welt.
Zurück zu Zweig und Remarque. Damals lag die Verantwortung für die friedliche Koexistenz bei der Diplomatie, und die versagte, oder sie spielte nach einem eigenen Drehbuch, das den großen Krieg ohnehin im Plot hatte. Im Jahr 2015 ist es wieder die Diplomatie, die einen Weltenbrand zu verhindern hat. Mit Angela Merkel an der Spitze einer überraschend gut koordinierten Europäischen Union und mit Barack Obama im Hintergrund scheinen dafür bestmöglich qualifizierte Personen an der Arbeit zu sein. Man stelle sich vor, an ihrer Stelle stünden etwa Gerhard Schröder und George W. Bush! Andererseits: Merkel verhandelt mit Wladimir Putin.
profil hatte ihn als „gefährlichsten Mann der Welt“ auf den Cover gehoben (was zu Entrüstung im Lande Österreich führte). Mit ähnlicher Begründung machten wir ihn vor zwei Monaten auch zur „Person des Jahres“. Selbst wenn Putin nur ein kühl kalkulierender Machttaktiker ist, erscheint die Lage ernst: Was sind denn die strategischen Überlegungen eines russischen Diktators? Für Russland und erst recht für Putin als Person mag eine politische und militärische Vorgangsweise sinnvoll sein, die weit außerhalb des westlichen Maßnahmenkataloges liegt.
Und was, wenn Putin nicht kühl kalkuliert, sondern pathologisch? Dann stehen wir im Jahr 2015 möglicherweise im Jahr 1914.