Unschöne Aussichten

Christian Rainer: Unschöne Aussichten

An die Stelle demokratischer Strukturen treten Nationalismus, Regionalismus, ethnische, religiöse Zugehörigkeit. Unschön.

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Die Suche nach einer bestimmenden Kraft im ablaufenden Jahr, ein unumgängliches Procedere zur Weihnachtszeit, produziert zunächst Gewissheit, dass diese Kraft keine gute war. Wenn der Ausblick auf 2015 Reflexion und Projektion von 2014 ist, dann ist die Charakterisierung „ungemütlich“ keine Zuspitzung der Lage.

Ökonomisch lief es flau – eine kleine Rezession, Arbeitslosigkeit, schwache Börse in Wien –, und mit dem Rubelverfall in den jüngsten Tagen wurde die Angelegenheit brandgefährlich. In Syrien nistet ein Terrorkrieg in einem Bürgerkrieg. Die Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ hat aber weit größere Dimensionen als ein Regionalkonflikt; das militärische Eingreifen der USA zeugt vom befürchteten Potenzial des IS-Regimes. Mit Russland versucht erstmals seit 1945 ein Staat erfolgreich, Grenzen in Europa zu verschieben. Ob Putin sich mit der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine zufriedengibt, bleibt für westliche Strategen (und Psychologen) ein Rätsel. Dass der russische Präsident vermutlich selbst keine Antwort geben kann, ist nicht tröstlich, sondern birgt ein ungeheures Risiko. Nebenfronten: Obamas Kuba-Coup täuscht nicht darüber hinweg, dass die USA bis zur nächsten Wahl durch republikanische Mehrheiten in beiden Häusern schwer behindert sind. Sein Verbindungsmann zu Raúl Castro, Papst Franziskus, mag eine Lichtfigur sein, beim schönen Scheinen bleibt es aber auch, er wird die Welt mit seinen Auftritten nicht retten. Nordkorea: das permanente Spiel mit einer Atombombe, zumindest einer schmutzigen. Afrika: instabil – und das ist ein Hilfsausdruck.

So weit eine politische Rundumschau. (Den Klimawandel samt Vernichtung aller fossilen Ressourcen – weil längst unumkehrbar der ziemlich wahrscheinliche Untergang eines Teils der Menschheit – lassen wir mangels weiterer Leidenswilligkeit außen vor.)

Zurück zur Suche nach einer Gemeinsamkeit dieser verstreuten Schauplätze und Ereignisse. Gibt es die Verbindung?

Die paradoxe Antwort lautet wohl: Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass jede Gemeinsamkeit fehlt, dass nichts mit nichts zu tun hat. Die Welt ist unübersichtlich geworden (und dieser Ausdruck überstrapaziert). Diese Erkenntnis ist hilfreicher, als sie erscheint. Sie verhindert jedenfalls den schnellen Schluss und damit die Fehlkalkulation, die auf Basis alter Gewissheiten formuliert würden.

So zum Beispiel: Feldzüge waren schon in der Vergangenheit selten zu gewinnen, unter anderem weil selbst der scheinbar gewonnene Krieg als Spätfolge stets einen weiteren verursachte. Heute jedoch sind meist nicht einmal die Streitparteien zu benennen und zu verorten. Wer ist IS und gegen wen kämpft er wo? Wer schießt in der Ukraine mit wessen Waffen auf wen? Detto in Libyen, Ägypten. Oder die Ökonomie: Die USA, Westeuropa, Osteuropa, China sind trotz Welthandels eigene Biotope geblieben – (teils) aus widerstreitenden ideologischen Systemen entstanden und (alle) unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Gesetzen gehorchend.

Aber gibt es abseits der gleichverteilenden Atomisierung der Welt auch eine echte Gleichförmigkeit der Entwicklung? Vielleicht diese: Aus dieser Zersplitterung von Gruppen und Gewissheiten entstehen neue Einheiten. Diese formen sich nicht gemäß den zivilisatorischen Fortschritten des vergangenen Jahrhunderts. Vielmehr drängen alte Bekannte in jenes Vakuum vor, das sich geopolitisch an der Stelle des Kalten Krieges gebildet hat, das sich gedanklich in den Freiräumen der fortschreitenden Demokratisierung ausbreiten konnte: Nationalismus, Regionalismus, ethnische und religiöse Zugehörigkeit. Sie definieren die neuen Kräftezentren.

So füttert Wladimir Putin den russischen Nationalismus, indem er in der Ukraine Regionalismus schürt, indem er ethnische und sprachliche Unterschiede als wechselseitige Feindbilder dramatisiert. Dass sich der ehemalige KGB-Atheist bei seiner Ranküne der Orthodoxen Kirche bedient, ergänzt ein Szenario, in dem alte Unwerte wieder Bedeutung erlangen. Durchsichtig auch das Bild im Nahen respektive Mittleren Osten: Hier wurde der IS zugleich Destillat und Brennstoff einer chaotischen Ansammlung von Stammes-, Sippen-, Familien-, Glaubensinteressen. Mit dem Ende des Terrorregimes im Irak und der Schwächung von Diktaturen wie jener in Syrien suchen diese zuletzt unterdrückten Machtgefüge wieder ihre alte Bedeutung. Ähnlich in Nordafrika: ein Umsturz hier, eine Revolution da – und jetzt herrscht buchstäblich alles, außer die von einem naiven Westen herbeigewünschte Demokratie. Afrika ebenso: Postkoloniale Grenzen werden zu dem, was sie ursprünglich waren – dünne Linien auf dicken Landkarten. An ihre Stelle treten Stammesstrukturen.

Also – die bestimmenden Kräfte im ablaufenden Jahr? 2014 ff.? Verheißen nichts Gutes.

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