Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Vom Wesen der Korruption

Vom Wesen der Korruption

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Damit die Sache einen Namen hat, damit das oben angeführte „Wesen“ Fleisch und Blut bekommt, sollte sich am Beginn dieses Textes eine Aufzählung österreichischer Politiker, Manager (und bisweilen auch ihrer Verwandten) finden. Geht nicht, dicke Indizien sind noch lange kein Beweis, Unvereinbarkeiten bilden keinen Sachverhalt, der Anschein erfüllt keinen Tatbestand, eine schmutzige Weste hat keine Streifen, Vorverurteilung, unvermutete Unschuld, hetzende Kampagne.

Man lasse also ersatzweise die forsch Vorgeladenen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses antanzen, jeder denke für sich an die Protagonisten kurz zurückliegender medialer Prozesse! Was also macht reale Bürger zu potenziellen Tätern?

Vielleicht ist die Antwort „die Gesetze“, und damit wäre das einfach die falsche Frage gewesen. Wer die Häufung von Korruptionsfällen im strafrechtlichen Sinn plus den Haufen anderer ungustiöser Vorfälle überblickt, mit denen man in den vergangenen Jahren versorgt worden ist, der kann zu folgendem Schluss kommen: Das Unrechtsbewusstsein der Eliten hat nicht mit den Normen mitgehalten, welche die Grenze zwischen Recht und Unrecht ziehen; das Selbstverständnis hinkt hinter den Gesetzen einher; die Selbstkontrolle ist unzureichend in Relation zur öffentlichen Wahrnehmung.

Beispiele, die so benannt werden dürfen: Karl-Heinz Grassers moralische Rasterung war nicht eng genug, um zu erkennen, dass für einen Finanzminister weder das Sponsoring einer Homepage zulässig ist noch der Transport von fetten Geldbündeln über Staatsgrenzen. Ein Uwe Scheuch wird nicht verstanden haben, dass die Verleihung einer Staatsbürgerschaft gegen Bargeld im StGB verboten ist (Urteil nicht rechtskräftig). Und falls Ernst Strasser nicht doch der große Korruptionsbekämpfer EU-Europas werden wollte (und bloß „keine Zeit“ hatte, das auch der Polizei mitzuteilen), dann hielt er die Lobbying-Tätigkeit eines Abgeordneten eben für den Normalfall.

Was bedeutet es dann aber, wenn die Gesetze in so vielen Fällen strenger sind als der Vorab-Befund von späteren Tätern? Anders formuliert: Was heißt es, wenn Politiker, die selbst Tag für Tag Gesetze erlassen, an der rechtlichen Einordnung ihres eigenen Tuns scheitern? Und nochmal anders: Wo entsteht die Diskrepanz zwischen dem, was die Eliten predigen, und dem, wie sie selber handeln?

Eine formale Antwort wäre: Gesetze bleiben immer eine Vision; die überschießende Korrektheit ist ihnen immanent. Sie dienen schließlich der Spezial- und Generalprävention gegenüber all jenen, die sie als Bürger qua Demokratie und professionell als Politiker erlassen. Der abstrakte Charakter der Gesetzestexte liegt dem Auseinanderfallen von Sachverhalt und Tatbestand, von Tat und Norm zugrunde. Oder auch: Wer nicht gerade vorsätzlich handelt, dehnt die Paragrafen zu seinen Gunsten.

Eine globalere Antwort wäre: Der Maßstab, den wir an Recht und Unrecht anlegen, ist ein Zufallsprodukt. Der Unterschied zwischen Korrektheit und Korruption ist kein allgemein gültiges Axiom der Menschheit, sondern eine ­Ermessenssache. Gut versus böse hat sich historisch ent­wickelt und bleibt geografisch unterschiedlich determiniert.

Was vor 100 Jahren in Österreich als ordnungsgemäß gegolten hätte, könnte heute unter fetter Anfütterung laufen; wofür damals die Todesstrafe gefällt worden wäre, mag im Jahr 2012 als normales Verhalten gelten. Eine Politik, die ausschließlich dem Machterhalt und der Vermögensmehrung dient, ist in Russland die weithin akzeptierte Realverfassung; bei uns wäre ein derartiges Demokratiekonzept nicht akzeptabel.

Daraus ergibt sich zweierlei: Einerseits soll niemand dar­auf vertrauen, dass unser Verständnis von Straf-, Zivil- und Verfassungsrecht das einzig mögliche ist und daher eine auf alle Zeiten stabile Ordnung für unser Leben und das unserer Nachfahren. Zumal – andererseits – ein derartiger Konsens über die Grenzen zwischen Legalität und Korruption ja nicht einmal bei den Eliten der Republik Österreich festzumachen ist.

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