Christian Rainer: Diese Wahl ist wenig wichtig

Das Schicksal der Republik wird erst nach dem 29. September entschieden. Von Kurz.

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Vorab eine Entschuldigung bei den Grünen: Der Titel dieses Kommentars ist unpassend für eine Partei, die derzeit nicht, aber nach der Wahl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Nationalrat vertreten ist, vielleicht sogar mit einem zweistelligen Ergebnis. „Nicht wichtig“ ist da einfach nicht richtig.

Was der Titel zum Ausdruck bringt: Trotz aller Schwankungsbreiten der Umfragen, trotz Unsicherheit über die Wahlbeteiligung und bei aller Unwägbarkeit der Plagen, die in den nächsten beiden Wochen noch über das Land kommen werden, ist schon heute absehbar, welche Optionen morgen bestehen werden. Nicht die Wahlen entscheiden, in welche Richtung sich die Republik bewegen wird, sondern die Verhandlungen der Parteien danach.

Die Karten wurden neu gemischt, verteilt sind sie aber längst.

Diese recht unübliche Ausgangslage ergibt sich aus dem großen Abstand, mit dem die ÖVP in den Umfragen führt, und aus simplen Additionen. Auch bei den nun etwas schwächeren Zahlen der aktuellen profil-Umfrage liegt Sebastian Kurz um etwa 50 Prozent, um die Hälfte also, vor SPÖ und FPÖ. Ein vergleichbarer relativer Abstand zwischen dem Favoriten und den Verfolgern ist mir nicht erinnerlich. Ein Kanzlerduell gibt es dieses Mal nicht.

Addition ist Koalition: Schon heute ist daher sicher, wer mit den Regierungsverhandlungen beauftragt wird und welche Möglichkeiten ihm – nämlich Kurz – offenstehen. Wer will, kann die Möglichkeiten auch auf die Zahl zwei reduzieren: mit der FPÖ oder ohne die FPÖ. Volkspartei und Freiheitliche werden ohne Problem eine absolute Mandatsmehrheit erreichen, unabhängig davon, wie erfolgreich sie bei der Wahl sind. Ebenso wahrscheinlich und losgelöst von den Feinheiten des Wahlergebnisses ist eine Mehrheit von ÖVP und SPÖ. Und, um das Wort ein weiteres Mal zu strapazieren, wahrscheinlich ist auch eine Mehrheit für eine Dreierkoalition aus ÖVP, Grünen und NEOS.

Die Entscheidung, die der ÖVP-Chef treffen muss, reduziert sich sehr schnell auf die Frage: FPÖ oder nicht FPÖ?

Mit etwas Gewalt dürfen wir das Spannungsmoment des Wahltages also auf die Frage reduzieren, ob Türkis und Grün gemeinsam eine Regierung bilden könnten. Anything else does not add up. Oder eben: Diese Wahl ist wenig wichtig.

In größtmöglichem Gegensatz dazu steht die Bedeutung der Verhandlungen nach der Wahl. Das Schicksal des Landes liegt dieses Mal weniger bei den Bürgern und mehr in den Händen von Sebastian Kurz. Er wird bestimmen, wohin sich das Land bewegt. Und ja, selbstverständlich wird der Umgang der anderen Parteien mit Kurz, ihr Verhalten in den Verhandlungen, auch eine Rolle spielen, aber eine untergeordnete, keine führende.

Die Entscheidung, die der ÖVP-Chef treffen muss, reduziert sich sehr schnell auf die Frage: FPÖ oder nicht FPÖ? Mit dem Jahr 2017 ist die Sachlage nicht vergleichbar. Damals ergab sich keine Mehrheit mit den NEOS oder der Liste Pilz, die Grünen waren aus dem Nationalrat geflogen. Eine weitere Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ wollten beide und auch die Bevölkerung nicht. Und die FPÖ war damals, wenn das überhaupt möglich ist, bloß ein Risikofaktor.

Kurz muss eine inhaltliche, aber vor allem eine moralische Entscheidung treffen. Die inhaltliche besteht in den Konzessionen, die er den möglichen Koalitionspartnern machen müsste. Bei der FPÖ würde sich das schnell auf das weitere Schicksal von Herbert Kickl reduzieren, mit dem nun sistierten Arbeitsprogramm geben sich Kurz und Norbert Hofer ja sehr zufrieden. Mit Grünen, NEOS und SPÖ sind dicke Abstriche zu machen. Das eben noch unüberwindbare Thema Migration ist allerdings in den Hintergrund getreten, das Thema Klima bei allen ein – mal mehr, mal weniger – zentrales Anliegen geworden. Zwischen ÖVP und SPÖ kommt noch böse Emotion hinzu, vielleicht unüberwindlich.

Mit den Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre bleibt die Entscheidung des absehbaren Wahlsiegers aber vor allem eine moralische: In welchem Verhältnis zu Demokratie, Rechtsstaat, Strafgesetz, Menschenwürde, Nationalsozialismus darf der Koalitionspartner einer christlichsozialen Partei stehen, mit wem kann die Volkspartei Regierungsumgang pflegen, ohne sich selbst und die Republik Österreich weiter zu beschädigen? Nach den Erfahrungen mit dem von Kurz geschassten Innenminister, nach zig „Einzelfällen“ und nach dem Ibiza-Video muss die Antwort eindeutig sein. Müsste eindeutig sein.

[email protected] Twitter: @chr_rai