Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Weltanschaulicher Notstand

Weltanschaulicher Notstand

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Vor zwei Wochen schrieb ich hier, „die gesellschaftliche Öffnung geht ihren Weg“, was man unter anderem an der „nachgerade wohlwollenden Duldung eines homosexuellen Pfarrgemeinderats durch Kardinal Christoph Schönborn persönlich“ ermessen könnte. Wie wichtig doch dieses Wörtchen „persönlich“ war! Denn in der Folge lief so ziemlich alles schief, was in der Dreiuneinigkeit von Kirche, Sexualität und Ungehorsam schiefgehen kann.

Erstens tat Pfarrer Gerhard Swierzek, der den gewählten Gemeindevertreter nicht hatte akzeptieren wollen, Selbiges auch mit dem Diktum des Kardinals, und er schmollte. Zweitens tauchte die Abschrift eines Telefonats zwischen Schönborn und Swierzek auf, wonach der Bischof seinem Mitarbeiter zunächst voll der Nächstenliebe empfohlen hatte, „den schwulen Kandidaten verschwinden zu lassen“ (von der Liste, nicht aus dem Leben). Drittens – Auge um Auge, Outing um Outing: Auf tritt eine Frau, die sich ob dessen „Scheinmoral“ medienstark als ehemalige Geliebte des Pfarrers zu erkennen gibt. Viertens: Schönborns Sprecher Michael Prüller glaubt der Frau. Kein Wunder, offensichtlich war Swierzek wegen jener Amour fou vor Jahren versetzt worden. Mangels Alternative verweist Prüller die Angelegenheit jedoch nach oben: „Den Bruch des Zölibatsversprechens muss er sich mit dem lieben Gott ausmachen. Vor 200 Jahren hätte der Bischof ihn noch festnehmen und wegsperren können.“ Aber hallo!

Eine Posse? Mitnichten. Vielmehr die zwingende Konsequenz aus jener gesellschaftlichen Öffnung, von der oben zu lesen war, und dem Weltbild einer 2000-jährigen Kirche samt einem 85-jährigen Pontifex, die dagegenhalten. (Im Vergleich dazu ist Christoph Schönborn ein Revoluzzer.)
Das Problem: Das Aussitzen von Krisen funktioniert nicht mehr. Über zwei Jahrtausende war das die geeignete und folgerichtig zum geflügelten Wort geratene Strategie der katholischen Kirche. Der sich mit exponentieller Beschleunigung verändernden Welt ist diese Taktik aber nicht gewachsen.

In den vergangenen 100 Jahren hat sich an den Überzeugungen und den Lebensumständen der Menschen so viel verändert wie in den 1000 Jahren davor. Das führt einerseits zu einem unauflösbaren Widerspruch zwischen einem Großteil der Gläubigen sowie ihrer Seelsorger und der absolutistisch herrschenden Glaubensinstanz, anderseits zur inneren Zerrissenheit des inzwischen völlig inhomogenen Kirchenvolkes. Und das ist kein Befund aus der Bobo-Perspektive im profil-Elfenbeinturm. Siehe die Pfarrerkabale in Stützenhofen, ausgerechnet der kleinsten Gemeinde der Erzdiözese Wien!

Noch ein Beispiel für das Auseinanderklaffen der Vorstellungen des Vatikans und der Befindlichkeiten seines Personals: die Pfarrer-Initiative. Der wohl von der Mehrheit der Priester goutierte „Aufruf zum Ungehorsam“ ist beispiellos in der österreichischen Kirchengeschichte. Vielleicht auch in der globalen: Warum sonst hätte der Papst die Reformbewegung in einer seiner wichtigsten Predigten des Kirchenjahres gerügt? Zwei zentrale Forderungen der bösen Ösis: nein zum Zölibat, ja zu Laienpredigten. Die Antwort des Bayern: Nur „die Radikalität des Gehorsams“ führe zu Erneuerung.

Was „radikaler Gehorsam“ anrichtet, hat profil in einer rezenten Titelgeschichte über den psychischen, körperlichen und spezifisch sexuellen Missbrauch von Schülern des Stiftsgymnasiums Kremsmünster beschrieben. Wer findet, dass es unredlich ist, die Worte des Papstes solcherart mit den Vorgängen in der Benediktinerabtei in Zusammenhang zu bringen, der sei auf einen Brief verwiesen, der profil am 27. März erreichte. Abgeschickt hat ihn Frau G., und er ist unterzeichnet von zwölf weiteren Personen. Frau G. schreibt da unter anderem: „Was man sich in Ihrem Artikel vom ,Horrorkloster‘ leistet, ist unerhört. Ihre Zeitung ist für uns nicht mehr glaubwürdig, da Journalismus dar­in von Hass und Geifer missbraucht wird. Wo bleibt das Gute, das auch von diesem Kloster ausgegangen ist?“ Wir sollten doch besser über Vergewaltigungen in Afghanistan berichten. Der Missbrauch in Kremsmünster wird in dem Brief nicht erwähnt.

Ja, jede Zeit hatte bekanntlich auch ihr Gutes. Google sagt mir, dass Frau G. eine Pfarrgemeinderätin in Oberösterreich ist und zumindest ein Teil der Unterzeichner auch in diesem Umfeld zu finden ist. Aber kann man G. und die anderen zwölf wirklich für das verantwortlich machen, was sie da von sich geben – angesichts des weltanschaulichen Notstands der Kirche?

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