Christian Rainer: Wer gewinnt die Wahl?

Keiner weiß es. Aber jeder spricht darüber. Wir auch.

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Mit der Einschränkung, die Sie im Vorspann dieses Textes finden, widmen wir uns in dieser Woche also der Nationalratswahl, die am 15. Oktober stattfinden wird. Aber wie ein Thema angehen, das man vorab selbst schon desavouiert hat? Wir tun es zunächst hinterrücks, indem wir zu klären versuchen, warum das Ergebnis völlig offen ist, warum die Umfragen in diesem Fall wichtiger sind als üblich, aber noch weniger taugen als vor anderen Wahlen. Als Begründung, warum wir dennoch spekulieren wollen, rufen wir den Bundeskanzler als Zeugen auf. Er ließ uns jüngst launig wissen: „Was jetzt kommt, wird unterhaltsam werden.“

Hier das Manko aller Umfragen: Bis zur Wahl werden noch viereinhalb Monate ins Land ziehen. Das wäre in jedem Fall eine lange Zeit. Hinzu kommt: Angesichts des Wechsels von drei Spitzenkandidaten und Parteichefs innerhalb von einem Jahr und im Lichte der Veränderungen mit der Kandidatur von Sebastian Kurz – plus 50 Prozent für die ÖVP – können die Umfragen erst recht nur Momentaufnahmen sein. Andererseits – ein Hinweis, dieses Mal einschränkend und jene 50 Prozent relativierend: In absoluten Zahlen und unter Einrechnung der Wahlbeteiligung entspricht ein Sprung von 20 auf 30 Prozent dann doch nur 500.000 Österreichern. Dennoch sind diese Befragungen wichtig wie selten: Hätte es sie vorab nicht gegeben, wäre Kurz niemals angetreten, und die Partei hätte ihm kein Pleinpouvoir gegeben.

Unterm Strich bleibt: Wir stochern im Nebel, gerade weil die Umfragen eindeutige Trends erkennen lassen. Also stochern wir – in der Reihenfolge, wie sie sich derzeit eben darstellt, von Klein nach Groß!

Das Team Stronach wird im nächsten Nationalrat nicht mehr vertreten sein. Verzichten wir auf Krokodilstränen! Was der Namensgeber dieser Gruppierung mit dem Auftrag seiner Wähler gemacht hat, ist einer Demokratie nicht würdig.

Was wird mit den NEOS passieren? Egal wo man steht: Es wäre schade, Strolz & Co. zu verlieren. Da arbeiten hochmotivierte und kluge Menschen. Man hat ein Programm, das sich nicht im üblichen Geschwafel erschöpft, das nicht mit jedem Punkt und Komma auf Gunst und Missgunst möglicher Wähler Rücksicht nimmt. Aber möglich ist, dass die „Neue ÖVP“ die NEOS aus dem Nationalrat kickt. Und das erscheint nicht berechtigt: Denn das Bild trügt, wenn man große Überschneidungen in den Programmen ortet. Bei der Flüchtlingsfrage stimmt das nicht, und bei Wirtschaftsthemen bleibt die neue Kurz-Truppe am Ende des Tages doch die alte Kammer-Truppe.

Die Grünen: Mir ist unverständlich, warum sie gerade bei ihren eigenen Wählern als Verlierer verortet werden. Einerseits ist die neue Führung mindestens so gut wie die alte und unverbraucht. Vor allem aber: Seit die SPÖ nach rechts rückt, sind die Grünen das einzige Angebot, das man in alten Termini als links bezeichnen kann: skeptisch gegenüber der Marktwirtschaft in Kombination mit Willkommenskultur. Da müsste doch einiges drinnen sein.

Haben alle vergessen, dass Kern eben noch als blendender Redner, als verlässlicher Ideologe, als reifer und dennoch geschmeidiger Zeitgenosse gefeiert wurde?

Heinz-Christian Strache – ihn abzuschreiben und zum Dritten downzugraden halte ich für voreilig, verfehlt, Wunschdenken. Er wird vielmehr auf Augenhöhe um Platz eins kämpfen. Kämpfen eben: Die FPÖ ist in dieser Konstellation erprobt, während Kern und Kurz noch nie einen Wahlkampf von innen (und oben) gesehen haben. Inhaltlich bleiben die Freiheitlichen die alleinigen Pächter des Ressentiments gegen Ausländer und die Erfinder der Antimigrationspolitik, leicht verständlich für jeden, in den Mitteln skrupellos. Und: Strache anzuzählen, weil er jetzt so alt aussieht, wie er ist, ist lächerlich.

Ebenso unsinnig ist es, Christian Kern als wahrscheinlichen Zweiten zu positionieren, was sich derzeit irgendwie zur Mehrheitsmeinung formt. Haben alle vergessen, dass Kern eben noch als blendender Redner, als verlässlicher Ideologe, als reifer und dennoch geschmeidiger Zeitgenosse gefeiert wurde? Gegen die SPÖ spricht natürlich, dass nur drei Bundesländer rot regiert werden, davon eines finanziell nicht lebensfähig, eines abtrünnig hart an der Abspaltung und das dritte, Wien, im Bruderkrieg verfangen. Aber: Im Wahlkampf sind die Roten stets geeint, es wird eine Persönlichkeitswahl werden, und da ist der Kanzler eine Nummer größer als viele seiner Vorgänger.

Das ist auch Sebastian Kurz als Parteichef, er wird viel gehasst, aber noch viel mehr geliebt, kommt irgendwo zwischen Luzifer und Gabriel zu liegen, näher bei der Heiligsprechung als nur ein Seliger. Die weichen Fakten: Er ist perfekt vorbereitet in die neue Rolle geschlüpft, aber fünf Monate sind zwei Monate zu lang, um mit einem Rollenspiel durchzukommen. Er ist härter im Nehmen und präziser im Austeilen als sein Widerpart Kern, aber abseits von Integration und Außenpolitik waren diese Eigenschaften von ihm noch nie gefordert. Er lernt schnell, aber er muss eben ständig aufs Neue noch lernen. Er wird als derjenige wahrgenommen, der den Flüchtlingsstrom gestoppt hat, aber als Kanzler sieht man ihn vielleicht noch nicht.

Substrat aus all dem: Wer gewinnt, bleibt völlig offen. Jedenfalls sind noch nie so viele charismatische Politiker bei einer Nationalratswahl angetreten. In diesem Sinne eine deutliche Verbesserung gegenüber immerschon.

[email protected] Twitter: @chr_rai