Leitartikel

Wie radikal darf die Rettung der Welt sein?

Eine profil-Umfrage macht mich ratlos. Gutes verheißt sie nicht.

Drucken

Schriftgröße

Kann es sein, dass sich die Frage, ob die Menschheit überleben wird, an ein paar Stunden Verzögerung im Straßenverkehr und an einigen verschmutzen Glasscheiben entscheidet? Dafür gibt es jedenfalls Anzeichen. Lesen Sie hier, warum!

Am vergangenen Mittwoch nahmen mein Kollege Clemens Neuhold und ich den wöchentlichen Innenpolitik-Podcast auf. Neuhold hatte für die zu diesem Zeitpunkt aktuelle Print- und E-Paper-Ausgabe eine Titelgeschichte verfasst. „So radikal sind die Klimakleber“ stand am Cover. Der Text behandelt die Verfasstheit der „Letzten Generation“, jener Gruppe von meist jungen Menschen, die sich mit Superkleber an Straßen oder in Museen fixieren, um zum Beispiel Forderungen nach Tempo 100 auf Autobahnen Nachdruck zu verleihen oder Fracking in Österreich zu verhindern. An anderer Front warfen die Aktivistinnen und Aktivisten Tomatensuppe auf die Verglasung eines Van-Gogh-Gemäldes oder Kartoffelbrei bei einem Monet. Neuhold hatte die „Letzte Generation“ wochenlang begleitet. 

Was mich wunderte und irritierte, war eine profil-Umfrage, die jene Geschichte ergänzte. Demnach finden nur neun Prozent der Österreicher, dass hier mit geeigneten Mitteln auf die Klimakrise aufmerksam gemacht würde. 27 Prozent urteilen mit „zu extrem“. 55 Prozent finden die Aktionen „gar nicht in Ordnung“ und fordern „strenge Bestrafung“.

Ich muss dieses Ergebnis mit einem flapsigen „Geht’s noch?!“ quittieren. Mehr als die Hälfte Bevölkerung fordert also eine strenge Bestrafung dafür, dass der Verkehr kurzfristig und lokal zum Erliegen kam, dass Museumsbedienstete in London und Potsdam zum Putzen ausrücken mussten? Die Sachverhalte erfüllen kaum den Tatbestand der vorsätzlichen Sachbeschädigung. Rahmen wurden verunstaltet und der Asphalt … eben. Nur neun Prozent äußern Verständnis. Das ist weit weniger, als die Grünen bei den Nationalratswahlen erreichten. Geht’s noch?!

Sie verhandeln nicht weiche politische Forderungen. Ihre Dystopie basiert auf wissenschaftlich fundierten Fakten.

Die Güterabwägung bleibt mir unverständlich. Auf der einen Seite steht die ungebändigte Erderwärmung samt Verbrauch aller fossilen Ressourcen. Hier findet doch längst nur mehr Schadensbegrenzung für den Planeten statt, und selbst diese Begrenzung ist noch nirgendwo abgesteckt. Auf der anderen Seite stehen ein paar unbequeme Zeitgenossen, die den drohenden Untergang wahrheitsgemäß wie plakativ ausschildern. Dazwischen irrlichterten just vergangene Woche 110 Staatschefs im ägyptischen Sharm El Sheik – sie waren großteils symbolvergessen im Businessjet eingeflogen: ohne jedes Ergebnis, ohne jeden Willen zu einem Ergebnis. Mit ihnen: 636 Lobbyisten für Öl, Gas und Kohle.

Warum diese Realitätsverweigerung vor der schlimmsten Katastrophe der Menschheitsgeschichte? Sind wir unfähig, unsere Planungen über den eigenen Ereignishorizont hinaus zu erstrecken? Behindert gar die Demokratie mit ihren kurzen Legislaturperioden das Generieren von langfristiger Wirkungsmacht?

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Antworten der von uns Befragten auf einem grundsätzlichen Misstrauen basieren oder auf einer Verortung der Aktivisten in der radikalen Szene. Wir hatten freilich beim Extremismusforscher Peter Neumann nachgehakt. Der bestätigt, dass „bisher keine Gewalt im Spiel war“, sieht aber „Radikalisierungspotenzial“. Doch mir fehlt bei ihm wie auch bei manch anderen Wissenschaftern der Sinn für die Dimension der Angelegenheit. Neumann spricht vom „postulierten Klimakollaps“, von „postulierter existenzieller Krise“, als wären diese nicht vorgezeichnet. Er sagt „apokalyptisches Weltbild“, als wäre diese Apokalypse nicht von knochentrockenen Klimaforschern vorausberechnet. Neumann: „Alle werden sterben. Wenn man das glaubt, sind natürlich alle Mittel legitim, um die Krise abzuwenden.“ Darauf muss man dann doch replizieren: Wenn es so weitergeht (und es wird so weitergehen), werden sehr viele sterben, also sind sehr viele Mittel legitim.

Die „Letzte Generation“ und auch „Fridays for Future“ (die sich – ebenso wie die Grünen in Österreich – nicht mit der „Letzten Generation“ solidarisieren) sind anders zu beschreiben als Bürgerbewegungen der Vergangenheit. Sie verhandeln nicht weiche (wenn auch gebotene) politische Forderungen wie die Studenten der 1970er-Jahre, die Anti-Zwentendorf-Initiative, die Au-Besetzer in den 1980ern. Vielmehr basiert ihre Dystopie auf wissenschaftlich fundierten Fakten. Und jene Dystopie ist der Untergang der Menschheit, ihre Utopie deren Rettung.
Daher sind neun Prozent Zustimmung zu den radikalen Aktionen beschämend wenig.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.