Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Zufallsprodukt Demokratie

Zufallsprodukt Demokratie

Drucken

Schriftgröße

Der Arabische Frühling „präsentiert insgesamt eine furchtbare Bilanz“. Bis auf Tunesien seien alle Länder in einem beklagenswerten Zustand. So analysiert Gilles Kepel, einer der weltweit bekanntesten Nahost-Experten, die Demokratisierungsbemühungen im arabischen Raum (ab Seite 50). „Wir erleben das Ende des Märchens“, sagt Kepel pessimistisch.

Demokratisierungsbemühungen? Das sollte besser „angebliche“ Demokratisierungsbemühungen heißen. Und pessimistisch? Stimmt wohl nur in Relation zu den naiven Aussagen, mit denen Beobachter aus allen Waffengattungen die vermeintlichen Veränderungen vor einiger Zeit analysiert hatten; „realistisch“ ist das passende Adjektiv. Jedenfalls gibt der Militärputsch in Ägypten einen guten Anlass, um generell ein wenig über das Projekt Demokratie nachzudenken: Gewinnt es Terrain oder sind das allenfalls Schein-entwicklungen? Ist die Demokratie die natürliche Lebensform einer modernen Gesellschaft, modern im Sinne von alphabetisiert und auf hohem Niveau industrialisiert, oder ist auch das Chimäre?

Die Kommentatoren sind derzeit vorsichtig. Gero von Randow in der „Zeit“ verlangt Geduld, und zwar gleich in der großen Tonnage: „In Europa wuchs die Demokratie in Jahrhunderten.“ Er glaubt aber immerhin an eine langfristige Entwicklung in Richtung des Lichts. Hans Rauscher im „Standard“ scheint da prinzipiell weniger zuversichtlich. Er beruft sich daher bloß auf eine inhärente Eigenschaft bereits bestehender Demokratien, auf ihre „Fähigkeit zur Selbstkorrektur“. Eine „positivere Bilanz“ sei derzeit nicht zu ziehen.

Aber vielleicht eine negativere. Es wäre unsportlich und somit ein Leichtes, anhand der arabischen Welt nachzuweisen, dass Volkszorn nicht zu Volksherrschaft führt. Unsportlich, denn hier mag eine kulturelle Sonderzone jedes politische Upgrading zum Scheitern bringen: „Die kulturelle Krise der arabischen Gesellschaften“ ginge zu tief, so Gilles Kepel im profil-Interview. Sie stünden zwischen „ihrem zivilisatorischen und religiösen Erbe und den Anforderungen eines postmodernen, mulitpolaren Zeitalters“. Anders ausgedrückt: Die Summe aus Islam und Stammesstrukturen steht der Demokratisierung massiv entgegen.

Also andere Weltgegenden – eine Auswahl. In Südamerika sind die Militärdiktaturen verschwunden, aber eine Westminster-Demokratie ist der Kontinent nicht geworden. Bei näherer Betrachtung muss selbst das Kirchner-Clan-Argentinien auf eine Watch List, ganz zu schweigen von Venezuela, Bolivien und anderen. Fernost: eine Anhäufung von Nepotismus und korrupten Schein- oder Militärdemokratien. China: selbsterklärend, eine Demokratisierung ohne Flächenbrand ist schwer vorstellbar. Indien: die größte Demokratie der Welt, aber auch eine der korruptesten samt politischen Erbpachten. Osteuropa: bis auf Ungarn ganz fein, freilich oft auf Basis demokratischer Traditionen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Ex-Sowjetunion: despotische Nachfolgestaaten und ein Russland mit Putin auf Lebenszeit. Afrika: Kommentar unnötig.

Zusammenfassung: Die fortschreitende Demokratisierung der Welt kann auch als eine fortschreitende Tarnung von scheinlegitimierten Diktaturen, Plutokratien und Oligarchien interpretiert werden.

Was heißt es, wenn diese Interpretation zutrifft? Es heißt, dass kein Naturgesetz besagt, der Mensch sei grundsätzlich für Demokratien gemacht. Wird das behauptet? Ja, wird es. Was aber öfter und besser begründet behauptet wird: Zunehmende Bildung und wachsender Wohlstand führten zwangsläufig in Richtung Demokratie. Der Augenschein spricht derzeit nicht dafür.

[email protected]