Kolumne

Elfriede Hammerl: Die Schere geht auf

Auf einmal können sich durchschnittliche Menschen ihr ganz normales Leben nicht mehr leisten.

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Dass es die Kinder einmal besser haben sollen als die Alten, dieser   Wunsch gehe nicht mehr in Erfüllung. So lautet eine häufig vorgetragene Klage. Sie suggeriert, dass wir ökonomisch alle im selben Boot sitzen. Eine Gesellschaft von Aufsteiger:innen, jetzt pauschal im Aufstieg gestoppt. 

Stimmt aber nicht. Wir sind nie alle im selben Boot gesessen. Immer schon haben es welche nicht nötig gehabt aufzusteigen, weil sie bereits relativ weit oben auf die Welt 
gekommen sind. Wie ihre Eltern. Und ihre Großeltern.  

Immobilienerbe statt Kredit fürs Siedlungshäuschen – das macht schon einen Unterschied. Und immer schon haben sich viele abgestrampelt und es doch nicht merklich weiter gebracht als ihre sich abstrampelnden Eltern und Großeltern. Der allgemeine Wohlstand hat über Jahrzehnte zugenommen, das stimmt. Aber die Unterschiede zwischen den Klassen sind geblieben. Der gestiegene Wohlstand hat auch die Ansprüche steigen lassen, doch die Ansprüche lassen sich nach wie vor in die Schubladen der Schichtzugehörigkeit sortieren.

Die ganze Zeit waren wir in unterschiedlich ausgestatteten Booten unterwegs. Neu ist, dass Boote, die vor Kurzem noch als gut ausgestattet galten und  einigermaßen funktionstüchtig mitgesegelt sind im Verband der anderen, plötzlich vom Absaufen bedroht sind. In ganz durchschnittlichen Freundes- und Bekanntenkreisen gibt es auf einmal Menschen, deren materielle Existenz auf dem Spiel steht, ohne dass sie ihren Arbeitsplatz verloren oder sich auf gewagte geschäftliche Spekulationen eingelassen hätten. Sie können sich nur plötzlich ihr bisher normales tägliches Leben nicht mehr leisten, weil die Kosten dafür explodiert sind. Horrende Gas- und Stromrechnungen, gestiegene Mieten, jeder Einkauf im Supermarkt ein erschreckendes Minus auf dem Konto, das alles steht in keinem Verhältnis zum Einkommen. Rücklagen werden angegriffen, adieu Sparefroh. Kleine Extras sind nicht mehr möglich. Bekannte im Café treffen oder gar im Restaurant? Lieber nicht. Was tun, wenn am Ende die Rechnung geteilt werden soll? Da kann man doch nicht kleinlich darauf hinweisen, dass man mit gutem Grund bloß ein kleines Gulasch und kein Bier konsumiert hat? Ja, so schaut es aus, wenn man arm ist, das kann man überall nachlesen, aber dass diese Symptome plötzlich im  eigenen Umfeld oder gar im eigenen Leben auftauchen, das hätte man nie gedacht. Die Schere geht auf, erschreckend genug, aber wie kommt es, dass das zur selbst erlebten Realität wird? 

Bekannte im Café treffen oder gar im Restaurant? Lieber nicht.

Was das Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben befeuert, sind indes nicht nur die horrenden Preise, die Ursache liegt auch in der kontinuierlichen Entwertung von Arbeit mittels Umgehung mühsam erkämpfter Arbeitnehmer:innenrechte. Immer mehr schlecht bezahlte Jobs, befristete Arbeitsverhältnisse, freie Dienstverträge, gar keine Verträge (wer so arbeitet, ist dann ein Ein-Personen-Unternehmen), nicht nur für Tätigkeiten, für die es geringer Qualifikation bedarf, sondern auch in Bereichen, wo eine fundierte Ausbildung und fachkundige Leistungen verlangt werden; auf dem Kultursektor zum Beispiel, in Sozialberufen, im Journalismus. Wie kommt es, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sorgfältig recherchierte und gestaltete Ö1-Sendungen bloß einen Pappenstiel an Honoraren wert sein dürfen, von denen freie Mitarbeiter:innen schon vor der Teuerung kaum leben konnten? 

Die Lage ist höchst unerfreulich, das stimmt. Doch längst geht es nicht um die Frage, wie nachfolgende Generationen die vorhergehenden an Wohlstand überflügeln könnten, sondern darum, wie man den Absturz breiter Bevölkerungsgruppen jeden Alters in ungesicherte Verhältnisse verhindert. Oder um die Frage, in wessen Interesse es liegt, diesen Absturz und das darauffolgende Chaos eben nicht zu verhindern. 

Themawechsel: Die Kinderpornografie heißt nicht mehr Kinderpornografie, weil Pornografie bedeutet, dass erwachsene Menschen wissentlich den Voyeurismus anderer erwachsener Menschen bedienen. Dass pornografische Bilder und Filme unter Zwang und Ausbeutung produziert werden, ist dabei nicht auszuschließen, trotzdem ist die Darstellung von Sexualität durch Erwachsene etwas anderes, als wenn Kindern sexualisierte Gewalt angetan wird. 

Deswegen heißt Kinderpornografie jetzt nicht länger so, sondern „Missbrauchsdarstellungen von Kindern“, und diese Änderung ist gut gemeint, aber leider schon wieder problematisch. Denn Missbrauch setzt das Vorhandensein eines zulässigen Gebrauchs voraus. Missbrauch kann auch heißen, Gabel als Zahnstocher oder, schon schlimmer, Medikamente als Aufputsch- statt als Heilmittel, aber in jedem Fall geht es um eine zweckentfremdete Verwendung. Für Kinderkörper gibt es keine reguläre Verwendung, sie können daher auch nicht regelwidrig benützt werden. Was missbrauchten Kindern widerfährt, ist nicht falscher Gebrauch, sondern sexualisierte oder sexuelle Gewalt. Das gehört explizit gesagt und nicht missverständlich codiert. Sprache ist wichtig.