Kolumne

Entsorgung

Wozu hat die alte Frau die vielen Briefe aufgehoben? Vom vergeblichen Kampf gegen die Endlichkeit.

Drucken

Schriftgröße

Jetzt ist die alte Frau tot, und die Kinder müssen ihren Nachlass entsorgen. Es stellt sich heraus, dass die alte Frau schachtel-, ja kistenweise Briefe und Postkarten aufgehoben hat, sowie jedes Bild, das ihre Kinder jemals gemalt oder gekritzelt haben. Die alte Frau hat viel korrespondiert, weil sie immer wieder über längere Zeiträume im Ausland war, vor den Kindern, mit Mann und Kindern, später, als der Mann fort war und die Kinder schon selbstständig gelebt haben. Überall hatte sie Freundinnen und Freunde, die ihr geschrieben haben, aus den verschiedenen Ländern nach Wien, aus Wien an die Orte, wo sie sich gerade aufhielt. Würde sie noch leben, könnte sie zu jeder Briefschreiberin und zu jedem Briefschreiber eine Geschichte erzählen. Fragmentarische Geschichten wären das zum Teil, weil man einander, wie das Leben so spielt, auch wieder aus den Augen verloren hat, trotz des Versuchs, die Freundschaft durch Briefe und Karten aufrechtzuerhalten. Dennoch: Hinter jedem Brief ein Mensch und eine Geschichte. So witzig und lebendig manche Briefe – wenn man wüsste, wie oft die Leben derer, die sie geschrieben haben, abgebogen sind in Mutlosigkeit, Krankheit, Einsamkeit, müsste man weinen. Zum Glück wissen es die Kinder nicht. Die alte Frau ist tot und hat ihr Wissen darüber mitgenommen, wohin auch immer.

Dazwischen Heiratsanzeigen, Geburtsanzeigen, Einladungskärtchen zu Festen, die längst gefeiert wurden, zu Preisverleihungen und zu Ehrungen. Babyfotos, von denen man nicht weiß, ob die Abgebildeten als Erwachsene noch leben, und wenn ja, wie alt sie sind. 

Zeugnisse von fremden Leben, an die sich die Kinder nicht erinnern. Zeugnisse von einem Leben ihrer Mutter, an das sich die Kinder so nicht erinnern, weil sie es so nicht miterlebt haben. Das Leben ihrer Mutter, nun wird es entsorgt. Der tote Körper ist tot, ein Häuflein Asche, bald werden auch die Briefe, Karten und Fotos Asche sein. Das ist dann der endgültige Tod. Werden die Kinder wenigstens die Bilder aufheben, die sie selber als Kinder gemalt und manchmal mit liebevollen kleinen Texten für die Mutter versehen haben? Eher nicht.

Die bunten Bilder, die Textchen, die Tatsache, dass die Alte sie sorgsam aufbewahrt hat, suggerieren eine liebevolle Beziehung und verraten nichts von den Konflikten, die die Kinder so sorgfältig in ihrer eigenen Erinnerung aufbewahren und immer wieder aufpolieren, wenn sie sie hervorholen. Die Kinder sehen sich als Opfer einer konfliktreichen Kindheit und Jugend, die als Erklärung für alles herhalten muss, was in ihren Leben nicht wunschgemäß verläuft. Außerdem sind die unbeholfenen Kinderzeichnungen nicht genial genug, um sie in einem Selbstbild zu bestärken, das sie hochbegabt, aber leider nicht ausreichend gefördert zeigt.

Warum hat denn die Alte den ganzen Krempel überhaupt aufgehoben? Hat sie gedacht, nachkommende Generationen werden ihr Leben dokumentieren wollen, werden es aus Briefen und Karten und Bildern neuerlich zusammensetzen, als wäre sie eine historisch bedeutsame Person, und für die Ewigkeit bewahren? Hat sie gedacht, sie ist bedeutend? Wollte sie unsterblich sein? Oder zumindest eine gute Weile lebendig über ihren Tod hinaus? War das ein Ankämpfen gegen ihre Endlichkeit? Was für ein armseliger Versuch. Vielleicht hat sie all die Zeugnisse ihrer Freundschaften, die Briefe, in denen ihr versichert wird, wie sehr sie fehle, in denen gemeinsame Erlebnisse beschworen werden und auf ein baldiges Wiedersehen gehofft wird, ja auch als Bollwerk gegen trübe Selbstzweifel an kalten Tagen aufbewahrt? Es sieht aber nicht so aus, als hätte sie viel darin gelesen, dazu sind die Schachteln zu verstaubt.  Sie war keine, die in Erinnerungen schwelgte. 

Unvergesslich, das stand früher oft auf Grabsteinen. Es ist ein bisschen aus der Mode gekommen.

Es käme ihr undankbar vor, Briefe wegzuwerfen, sagte sie einmal. So gesehen war das Aufheben auch ein Ankämpfen gegen die Endlichkeit der anderen. Sie hat sie am Leben gehalten, wenigstens für die Dauer ihres eigenen Lebens. Wie gesagt: so viele Geschichten. Geschichten von Freude und Zuneigung und vielversprechender Liebe, von Talent und von Frust, von Erwartungen, Hoffnungen und enttäuschten Hoffnungen, von Krisen und überstandenen Krisen und am Ende die Todesanzeigen. In tiefer Trauer. Geliebte Gattin und Mutter. Schwester. Großmutter. Zum Schluss reduziert sich alles auf ein paar Verwandtschaftsbezeichnungen.

All die Geschichten, im Zeitraffer erzählbar. Wenn man lange genug auf der Welt ist, komprimieren sich die erlebten Zeiträume in der Rückschau auf ein paar markante Momente. Erleben – Überleben – Ableben. Das abgelebte Leben wird entsorgt. Kein Weiterleben. 

Jetzt ist die alte Frau gestorben, und die Kinder kippen die Briefe und Karten und Bilder in den Altpapiercontainer. Papier zu Papier, tote Erinnerungen zu überholten Zeitungsmeldungen, Abfall zu Abfall. Unvergesslich, das stand früher oft auf Grabsteinen. Es ist ein bisschen aus der Mode gekommen. Bedauerlich? Na ja.  Man könnte auch sagen, die Hinterbliebenen sind einfach ehrlicher heutzutage.