Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Europa, gefühlt

Europa, gefühlt

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Kein griechischer Wein in meiner Jugend. „Ihr seid nicht nach Griechenland gefahren, damals?“, fragt die 17-Jährige. „Warum?“ Weil das eine Militärdiktatur war. Bis 1974.

Übrigens auch kein spanischer Wein zu der Zeit. „Warum?“ War auch eine Diktatur. Bis 1975. Und keine Urlaube in Portugal. Bis 1976, als es demokratisch wurde.

„Wohin seid ihr denn gefahren im Sommer?“

Italien. Südfrankreich, aber die Côte d’Azur war uns zu teuer. England, aber da war’s kühl. Jugoslawien. Na ja, manche von uns. War aber auch eine Einparteiendiktatur.

Jugoslawien. Für die 17-Jährige nur noch Geschichte. „War ein Staat in Südosteuropa“, steht in Wikipedia. War einmal. Zerfiel in schrecklichen Kriegen. In Länder, von denen einige heute zu uns gehören. Zu uns, zur Europäischen Union.

In meiner Jugend gab es Europa nicht. Wir stießen überall an Landesgrenzen, schon gar als BewohnerInnen des kleinen Österreich. Wir reisten auch, keine Frage, aber von Grenzbalken zu Grenzbalken. Abgeschottete Territorien, bewacht von Uniformierten. Passkontrolle. Zollkontrolle. Strenge Gesichter. Irgendwie hatte man immer ein schlechtes Gewissen.

Meiner Generation saß bei Ausweiskontrollen auch noch die Furcht der Nachkriegszeit im Genick. Ich war ein kleines Kind, da fuhren wir häufig mit der Bahn von Wien in die Oststeiermark. In der Station Mönichkirchen wurden die Identitätsausweise kontrolliert. Man verließ russisches Besatzungsterritorium und reiste ins englische ein. Die Russen galten als unerbittlich und unberechenbar. Wer keine I-Karte bei sich hatte, musste damit rechnen, nach Sibirien verschleppt zu werden. Jedenfalls behaupteten das die Mitreisenden, während einer im Abteil – immer war einer darunter, der seinen Ausweis nicht gleich fand – verzweifelt seine Taschen und sein Gepäck durchwühlte und der Zug schon in den Bahnhof einfuhr.

Später haben wir, meine Generation, uns empört über das, was der Besatzung vorausging, aber das kleine Kind erlebte nur die Bedrohung, die sich mit dem Wechsel von einer militärisch abgesicherten Zone zur anderen verband.

Wenn ich heute durch ein grenzenloses Europa fahre, dann fühle ich mich nicht als Europäerin auf dieselbe Art, in der sich US-Amerikaner als US-Amerikaner fühlen, aber ich freue mich über eine Bewegungsfreiheit, der durchaus das Empfinden einer Zusammengehörigkeit zugrunde liegt. Ich erinnere mich noch gut, wie es war, vor dem Eisernen Vorhang zu stehen, so nah das Drüben – und doch so schwer erreichbar. Und an mein ungläubiges Staunen, wenn mir Ältere erzählten, wie sie selber als Kinder mit den Eltern in der Straßenbahn von Wien nach Pressburg gefahren seien, zum Schuhekaufen, einfach so. Heute fahren wir aus Wien für einen Opernabend nach Bratislava, einfach so.

Das Europa, in dem ich heute zu Hause bin, umfasst 28 Staaten, die sich verpflichtet haben, die Menschenwürde und die Menschenrechte zu achten und deren Grundwerte (festgelegt in den Kopenhagener Kriterien) Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern heißen.

Klappt nicht immer so ganz mit der Umsetzung, ist aber doch was entschieden anderes als der Flickenteppich aus ein paar Demokratien zwischen definitiv undemokratischen rechten und linken Diktaturen, der Europa vor 40 Jahren war.

Ich bin nicht blauäugig (nur manchmal ein bisschen romantisch). Als ich 1994 über Österreichs EU-Beitritt abstimmen sollte, hatte ich meine Zweifel. War es mir ein Anliegen, zu einem immer größeren europäischen Binnenmarkt zu gehören? Wessen Interessen würden dabei auf der Strecke bleiben? Musste man um soziale Standards bangen? Würden die Mitsprachemöglichkeiten ausreichen? War es dumm, aufs Mitreden gänzlich zu verzichten? Zu meinem Beitritts-Ja trug schließlich nicht unwesentlich die Vorstellung bei, andernfalls mit Jörg Haider in einer Alpenfestung festzusitzen.

Seither haben wir uns alle, selbstverständlich und nebenbei, europäisiert. Unsere Kinder und Enkel – 22.000 pro Jahr – studieren semesterweise, dank Erasmus, in anderen europäischen Ländern. Die Fremde ist nicht mehr so fremd wie einst. Eine neue Aufgeschlossenheit hat sich breitgemacht, doch, ja, wirklich. Das zeigt sich nicht zuletzt auf der sprachlichen Ebene. Denglish, BSE (Bad Simple English) und ein stark übertriebener Anglizismenverschleiß mögen einem ja manchmal auf die Nerven gehen, trotzdem zeugen sie von Verständigungsbereitschaft, anders als früher, da man in den meisten Staaten ohne die Landessprache nicht weiterkam und von den stolzen Franzosen wie Abfall behandelt wurde, wenn man Französisch allenfalls fehlerhaft sprach.

Nein, es ist keineswegs alles paletti in der EU. Vieles muss noch gestaltet, verändert, auch verhindert werden. Die Sorge, dass beim gewinnorientierten Umgang mit dem Humankapital das Humane auf der Strecke und der Gewinn nur an wenigen hängen bleibt, ist nach wie vor berechtigt. Und der Vormarsch nationalistischer Rechtspopulisten kratzt durchaus an meiner Zuversicht. Trotzdem: Europa zu vertrauen, fühlt sich besser an, als misstrauisch aus einem Vaterlandsbunker zu spähen.

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