Mangelerfahrung

Flicken, Stopfen, Kohleschleppen – nachhaltiger Lebensgenuss war das nicht.

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Ich bin aufgewachsen nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals hatte niemand etwas, heißt es. Aber das stimmt nicht ganz. Das dicke Kind aus dem ersten Stock hatte Schokolade, ich nicht. Andere Kinder hatten hübsche Kleider, ich steckte in den geerbten Pullovern einer älteren Cousine, sie waren an den Ellbogen fast durchgewetzt. Manche Kinder hatten eigene Zimmer, ich hatte keines. Manche Familien hatten einen Plattenspieler, wir nicht. Ich habe erfahren, was Mangel heißt. Nicht Mangel an Nahrung, wie meine Eltern und Großeltern, aber Mangel an Wohnraum, an Bequemlichkeit (auch ein Badezimmer hatten wir nicht), an kultureller Teilhabe (jede Ausgabe wollte genau überlegt werden, die Gebühren für die Leihbücherei, das Geld für den Stehplatz im Theater, die Kosten für den Eintritt in Ausstellungen), an kleinen Alltagsfreuden. Alles kostete Geld, das wir nicht hatten. Kinokarten, der Espresso im Kaffeehaus, ein guter Haarschnitt. Es wurde besser, als ich anfing, Nachhilfestunden zu geben, aber noch als Studentin stand ich vor den Auslagen der Boutique Annabelle im Jonausreindl vor dem Aufgang zur Uni und starrte auf die Klamotten darin wie auf Gegenstände aus einem unerreichbaren Universum. 

Unsere materiellen Engpässe waren nicht die verdiente Strafe dafür, dass meine Eltern davor daran beteiligt gewesen waren, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Meine Eltern hatten sich ohnmächtig unter dem Naziterror weggeduckt, sie hatten ihn überlebt, das war alles. Nie habe ich von ihnen auch nur ein beschwichtigendes Wort darüber gehört, nichts über anfängliche Hoffnungen und dass man ja schließlich nichts gewusst habe. Vor allem meine Mutter bestand darauf, dass das Grauen vorhersehbar und bekannt gewesen war, aber auch darauf, dass es nicht nötig gewesen sei, sich dem Regime extra anzudienen. Sie schaffte es, ohne opportunistische Verrenkungen davonzukommen. Ihr späteres Leben hat sie dafür nicht belohnt.

Wir müssen aufhören, in Saus und Braus zu leben, wird gepredigt. Aber wer hat denn in Saus und Braus gelebt?

Wenn meine Altersgenossen erklärten, dass sie die Generation unserer (Nazi-)Eltern verachten würden, konnte ich dieser pauschalen Verurteilung nicht zustimmen. Und die nachträgliche Überzeugung von Nachgeborenen, sie wären bestimmt im Widerstand gewesen, halte ich, höflich gesagt, bis heute für eitle Selbstüberschätzung. 

Im Übrigen sind die ehemaligen Nazis nach dem Krieg solchen wie meinen Eltern wirtschaftswundermäßig davongezogen, man weiß es. Je mehr sie daran beteiligt gewesen waren, die Welt in Schutt und Asche zu legen, desto mehr profitierten sie vom Wiederaufbau. Was sie angerichtet hatten, badeten die anderen aus.

Warum erzähle ich das? Weil wieder einmal pauschal Schuld zugewiesen wird. Wir müssen aufhören, in Saus und Braus zu leben, wird gepredigt. Aber wer hat denn in Saus und Braus gelebt? Klar, es gibt Leute, die das getan haben, sie werden es wohl weiter tun. Sie definieren Saus und Braus anders als unsereins. Ein Kurzurlaub auf den Malediven 
mit Kindern und Kindeskindern im Fünf-Sterne-Luxus erscheint ihnen nicht als Saus und Braus, sondern als vertretbares Familientreffen in angenehmer Umgebung. Aber 
das Gros der Bevölkerung? Wir sind nicht auf einmal aus maßvoller Bescheidenheit in eine entfesselte Konsumgier gekippt, der wir uns noch dazu alle unterschiedslos überlassen konnten.

Das Knausern und das Sparen, das Flicken und Stopfen, Wasser vom Gang zu holen und das Gemeinschaftsklo für drei Wohnungen, mit dem viele Alte und manche Ältere groß geworden sind, das war nicht vernünftiger, nachhaltiger Lebensgenuss, sondern freudlose Armut. Und darauf folgten nicht Saus und Braus, sondern Jahre des bescheidenen Wohlstands. Neues statt Geflicktem und Gewendetem, eine Wohnung mit Bad, Gastherme statt Kohleofen und ja, das erste Auto und Urlaubsreisen damit, an die Kärntner Seen oder an die Obere Adria. Der Wohlstand erreichte nicht alle, aber mehr Menschen als früher. Und für die Hausfrauen waren der Staubsauger, die Waschmaschine, Konserven, die man kaufen konnte, statt selber einzurexen, und später das Tiefkühlgemüse ein verdienter Gewinn an Lebenszeit und Lebensqualität. 

Das alles sollte man im Auge haben, ehe man mir nix dir nix den Stab bricht über zwei, drei Generationen von angeblichen Ressourcenverschwendern, Konsumidiot:innen und verwerflichen Erde- und Klimazerstörer:innen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ganz offensichtlich ist eine Wende bei der Energiegewinnung und im Umgang mit unseren Ressourcen dringend notwendig. Aber wieder einmal fehlt es an einer differenzierten Betrachtung der Ursachen und der Verursachenden. 

„…  doch dort, wo es wirklich wehtut, möchten sich nur wenige einschränken“, steht im letzten profil als Ergebnis einer Umfrage von Unique Research. An welche Schmerzgrenze ist dabei gedacht? Verzicht auf Malediven-Urlaube oder Verzicht auf Waschmaschine und Staubsauger? Mir tut es gerade weh, dass ich mir einen neuen Computer kaufen muss, damit mich die Digitalisierungswelle nicht plattwalzt. Ich würde mich da gerne einschränken. Wer sagt es den Verantwortlichen?