Elfriede Hammerl: Vollkasko-Vollkoffer

Elfriede Hammerl: Vollkasko-Vollkoffer

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Er sei gegen Vollkasko-Mentalität, sagte Vizekanzler und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner kürzlich in einem Interview mit dem „Kurier“, um sein Eintreten für Selbstbehalte in der Krankenversicherung zu begründen. Keine Vollkasko-Mentalität. Fesch gesagt. Schon sehen wir sie vor uns, die laschen Vollkasko-Vollkoffer, wie sie sich widerstandslos einer Blinddarmentzündung überlassen, weil die OP und alles danach eh die Kassa zahlt. Bestimmt würden sie sich das nicht trauen, wenn sie selber blechen müssten! Eigenhändig würden sie ihren Blinddarm am Durchbrechen hindern, statt sorglos unser Gesundheitssystem abzuzocken.

Nein, ernsthaft: Vollkasko-Mentalität, was meint Herr M. damit?

Vollkasko heißt: Jeder Schaden ist gedeckt. Ein Auto lässt man vollkaskoversichern, wenn es neu und wertvoll ist. Danach sollte man, empfehlen Versicherungsexperten, den aktuellen Zeitwert des Fahrzeugs regelmäßig prüfen und nachrechnen, ob sich die höhere Prämie dafür noch lohnt. Mit anderen Worten: Überlegen Sie sich, was Sie in Ihre Rostschüssel noch investieren wollen. Ist doch wurscht, wie verbeult sie ist, demnächst landet sie ohnehin auf dem Schrottplatz.

Was heißt das auf Menschen umgelegt? Die Versicherten sollen ihre Gesundheit gefälligst nicht für so wertvoll halten, dass sie jeden Schaden repariert haben wollen? Es muss nicht jede Erkrankung therapiert werden, schon gar nicht, wenn der erkrankte Körper alt oder aus sonstigen Gründen schäbig ist? Wer mit 55 unbedingt noch ein neues Hüftgelenk will, soll diesen frivolen Luxus aus eigener Tasche bezahlen? Wer eh schon herzleidend ist, muss einsehen, dass sich eine Rheumakur für seine Klapperkiste von Körper nimmer auszahlt? Soll’s für ein gebrauchtes Auge auch eine gebrauchte Linse tun? (Ja, anderswo ist das bereits Realität: Ab 60 nur noch das Minimalservice für den entsorgungsreifen Leib. Aber wo steht, dass wir auf derartige Verhältnisse zusteuern wollen?)

Herr Mitterlehner wird heuer 60. Stellt er Kosten-Nutzen-Rechnungen auch in Bezug auf die eigene Person an? Überschlägt er beim Zahnarzt, ob sich neue Kronen in Anbetracht seiner Lebenserwartung noch rentieren? Oder geht er getrost davon aus, dass er sich im Bedarfsfall sowieso alles leisten kann, was ihm hilft und nützt? Und meint er wirklich, dass denjenigen, die sich nur leisten können, was die Kasse übernimmt, recht geschieht, wenn sie eventuell auf der Strecke bleiben?

Selbstbehalte können ins Geld gehen. Ein paar Untersuchungen und 150 Euro sind weg

Selbstbehalte können ganz schön ins Geld gehen. Ein paar Arztbesuche, ein paar Mal Labordiagnostik in Anspruch genommen und womöglich ein, zwei Röntgenuntersuchungen gebraucht – schon sind 100, 150 Euro weg wie nix. Alle bei der SVA Versicherten können davon ein Lied singen. 150 Euro weniger spürt man nicht, wenn man ein Ministergehalt bezieht. Aber für den kleinen Gewerbetreibenden oder die kleine Freiberuflerin sind das empfindliche Einbußen, zusätzlich zum Verdienstausfall, den ihnen Krankheiten oft bescheren. Also überlegen sie sich jeden Arztbesuch dreimal. Und genau das sollen sie ja auch, wenn es nach den Befürwortern der Selbstbehalte geht. Eigenverantwortung heißt das dann. Eigenverantwortlich darf der/die gemeine Versicherte entscheiden, wie er/sie sich im Krankheitsfall ruiniert: finanziell, gesundheitlich oder sowohl als auch.

Die Eigenverantwortung gehört zum Leistungsprinzip, das dringend ins Gesundheitssystem Einzug halten soll. Gesund zu sein ist nämlich eine Leistung. Kranke sind Leistungsverweigerer. So einfach ist das. Oder doch nicht? Als Mitterlehner seine Vollkasko-Ansage machte, wurde gerade eine neue WHO-Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, wie sehr die zunehmende Kinderarmut die Gesundheit der Heranwachsenden gefährdet. Nicht nur minderwertiges Essen und feuchte oder schimmelige Wohnungen an verkehrsreichen Straßen machen Kinder krank, auch der stressige Alltag unter finanziellem Dauerdruck setzt ihnen zu und prägt sie für ihr späteres Leben. Als Erwachsene seien sie deutlich häufiger krank als die übrige Bevölkerung.

Sind das jetzt lauter Minderleister? Die in Voll­kasko-Mentalität mit ihrer Gesundheit hasardieren, indem sie das Aufwachsen im Grünen und in gesicherten finanziellen Verhältnissen ablehnen?

Der Herr Vizekanzler weiß es vielleicht nicht, aber gerade bei der Kinderversorgung sind wir von Vollkasko noch weit entfernt. Zum Beispiel beginnt Österreich erst heuer mit dem Aufbau von Kinder-Rehabilitationszentren. Bis jetzt müssen Eltern die Nachbetreuung von Kindern, die eine lange und schwere Krankheit hinter sich haben, privat organisieren, mit ihnen von Therapie zu Therapie fahren und dafür großteils aus eigener Tasche zahlen.

Vollkasko. Beim Auto bedeutet das, auch Schäden, die durch Vandalismus entstanden sind, sind gedeckt. Man könnte Krankheit als vandalistischen Akt des Schicksals sehen. Oder als Folge vandalistisch wütender Lebensverhältnisse. Sollen Menschen in so einem Fall auf ihre Krankenversicherung zählen dürfen? Menschen doch nicht! Vollkasko gibt’s bei Autos, das genügt.