Elfriede Hammerl: Wiederentdeckt

Warum es notwendig ist, sich der schönen Literatur zu widmen. Eine Empfehlung.

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Mit Vergnügen lese ich gerade wieder Marie von Ebner-Eschenbach. Die Dichterin, um 1900 eine gefeierte Größe der deutschsprachigen Literatur, war in meiner Schulzeit noch eine, deren Romane und Erzählungen man kennen musste; den jungen Menschen von heute sagt ihr Name wenig bis gar nichts. In gewisser Weise ein Frauenschicksal. Ja, auch männliche Dichter geraten in Vergessenheit, aber Künstlerinnen hatten es nicht nur generell schwerer, wahr- und ernstgenommen zu werden (nicht einmal Ebner-Eschenbach entging zu Lebzeiten der geringschätzigen Etikettierung Damenfeder), sie wurden zudem rascher als ihre männlichen Kollegen als überholt betrachtet, totgeschwiegen, ausgelöscht. Das Werk Ebner-Eschenbachs wird, wenn man es heute erwähnt, meist auf die herzzerreißende Hundegeschichte „Krambambuli“ reduziert, oft mit einem geringschätzigen Unterton, als handle es sich dabei um ein sentimentales Rührstück und nicht um einen hochliterarischen Text über Liebe, Treue und Verrat. Insgesamt hat ihr die Literaturgeschichte das Image einer anständigen, aber witzlosen Person angehängt. (Auch das ein Klischee mit Gender-Hintergrund – bekanntlich hat sich Tucholsky noch 1932, beim Erscheinen von Irmgard Keuns erstem Roman, über eine schreibende Frau mit Humor gewundert.) Dass schon Ebner-Eschenbach eine schreibende Frau mit Humor war, kann man jetzt nachlesen, denn drei österreichische Germanistinnen – Daniela Strigl, Evelyn Polt-Heinzl und Ulrike Tanzer – holen sie gerade mit einer klug kommentierten vierbändigen Leseausgabe (Band drei ist soeben bei Residenz erschienen) ins literarische Bewusstsein der Gegenwart zurück. Und es zeigt sich, dass die Aristokratin nicht nur eine scharfsinnige Beobachterin war, die mit großer Menschenkenntnis – und Empathie für die Unterprivilegierten – gesellschaftliche Zu- und Missstände durchleuchtete, sondern dass sie zudem über Biss, Witz und satirisches Talent verfügte.

In der Novelle „Božena“ zum Beispiel charakterisiert sie einen Grafen, der im Revolutionsjahr 1848, von seinem Schloss vorübergehend vertrieben, die Gastfreundschaft eines reichen Kaufmanns in Anspruch nimmt, folgendermaßen: „Und gewiss betrat Karl V. das Haus Anton Fuggers auf dem Weinmarkte zu Augsburg mit nicht geringerem Bewusstsein einer von ihm erwiesenen Gnade als Rondsperg das Haus des Kaufmanns Leopold Heißenstein. (…) Der Graf ließ sich alle Ehrenbezeugungen huldvoll gefallen und belohnte sie – wie er überzeugt war, reichlich – durch ein gelegentlich hingeworfenes Wort der Anerkennung.“ Das liest sich heute noch erfreulich bissig, 1876, als „Božena“ erschien, war dieser Befund einer Standesgenossin über die Dünkelhaftigkeit des Adels mehr als ungewöhnlich.

Ebner-Eschenbach wiederzuentdecken lohnt sich also nicht nur in feministischer und literarischer Hinsicht, sondern auch wegen des Unterhaltungswerts, den ihre Texte durchaus haben. Ich empfehle sie allerdings auch noch aus einem anderen Grund, vor allem jenen, die die heile Familie und das dörfliche Idyll von ehedem als verlorenes Paradies beklagen: Lest Ebner-Eschenbach, Leute, und ihr werdet lernen, was es mit beidem wirklich auf sich hatte.

Nicht, dass sie dagegen agitieren wollte. Sie beschrieb einfach nur, wie die Realität aussah. Und in der Realität war die Familie kein kuscheliges Nest, gepolstert mit Liebe, Nachsicht und Verständnis, sondern, je nach sozialer Stellung, Notgemeinschaft, in der die Einzelnen um ihr Überleben kämpfen mussten, oder hierarchisch strukturierte Firma, die Besitz und Einfluss wenn schon nicht vermehren, so doch wenigstens erhalten sollte. Kinder, die gegen diese Politik verstießen, zum Beispiel, indem sie sich eine Liebesheirat mit einer mittellosen Person einbildeten, liefen Gefahr, von unerbittlichen Patriarchen verstoßen zu werden. Den Patriarchen brach dabei möglicherweise das Herz, aber anders als ihre Kinder sahen sie in der Liebe keine geeignete Kompensation für wirtschaftlichen Abstieg.

Das einzelne Leben ist eben mehr als ein statistisches Detail.

Unromantisch auch Ebner-Eschenbachs Blick auf das dörfliche Leben, in dem ebenfalls materieller Besitz die ­hierarchische Stellung der Dorfbewohner bestimmt, und wo arme Außenseiter auf grausamen Widerstand stoßen, wenn sie sich in die Gemeinschaft der Ehrbaren eingliedern wollen.

Das soll jetzt freilich nicht den Eindruck erwecken, als wäre Ebner-Eschenbach eine einseitige Schwarzmalerin, im Gegenteil, sie schildert eine vielschichtige Welt, in der sich unterschiedliche Individuen auf ihre Art ihren Gefühlen und den äußeren Umständen ihres Lebens stellen.

Und das ist auch der Grund, warum man sich, wie ich meine, immer wieder der schönen Literatur zuwenden sollte: weil sie, wenn sie gut ist, von Menschen erzählt und nicht einfach, wie Sachbücher, von Bevölkerungsgruppen, die generalisierend auf signifikante Gemeinsamkeiten reduziert werden.

Solche Menschenerforschung macht erstens Vergnügen und beugt zweitens einem falschen Blick auf die Geschichte vor, der übersieht, dass das einzelne Leben eben mehr ist als statistisches Detail einer mehr oder weniger vernachlässigbaren Summe.