Elfriede Hammerl: Zu enge Bindung II

Wie mütterliche Fürsorge zunehmend pathologisiert wird.

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Was bisher geschah: Zwei Volksschulkinder sagen, dass sie an den Besuchswochenden beim Vater sich selber überlassen seien. Der Vater sagt, das sei erstens nicht wahr, und zweitens überlasse er die Kinder sich selber, damit sie lernten, sich allein zu beschäftigen. Der Gerichtsgutachter sagt, die Kinder lügen, um der Mutter zu Willen zu sein, und außerdem sei es gut, wenn der Vater den Kindern Entwicklungsspielraum lasse, statt wie die Mutter ihre Freizeit zu strukturieren. Passt irgendwie nicht zusammen? Ist aber notwendig, wenn bewiesen werden soll, dass die Mutter, vordergründig harmlos, in Wirklichkeit ein Kontrollfreak ist, und der Vater, vordergründig emotional instabil und leicht erregbar, trotzdem einer, dessen Verhaltensweisen stärker in den Lebensalltag der Kinder einfließen müssen.

Psychologische Gutachten spielen bei Obsorgeprozessen eine bedeutende Rolle. Und leider sind sie oft voll von gewagten Interpretationen und Spekulationen, die immer häufiger den Verdacht aufkommen lassen, dass mittlerweile ein gesellschaftliches Klima herrscht, in dem Vätern in Obsorgestreitigkeiten generell ein Bonus eingeräumt wird. Nicht mehr der Patriarchenbonus, der ihnen Lenkungsqualifikation aufgrund höherer männlicher Weisheit zuspricht, sondern einer, der auch verantwortungsloses, liebloses oder grobes Verhalten in notwendige Facetten eines männlichen Rollenbildes umdeutet, mit dem Kinder konfrontiert werden müssten, um eine ganzheitliche Weltsicht zu entwickeln. Andernfalls sei ihre spätere Beziehungsfähigkeit zum anderen Geschlecht beeinträchtigt.

Was bei Müttern Vernachlässigung wäre, wird bei Vätern zu Unbekümmertheit.

Was bei Müttern Fahrlässigkeit oder Vernachlässigung wäre, wird an Vätern dann beispielsweise zu liebenswerter Unbekümmertheit umstilisiert. Und für die Qualität ihrer Beziehung zu den Kindern werden nicht die Väter verantwortlich gemacht, sondern es sind die Mütter, denen gerichtlich nahegelegt wird, den Kontakt des Kindes mit dem Vater zu managen, zu fördern, ja, notfalls gegen den Willen des Kindes durchzusetzen, widrigenfalls sie mit Sanktionen zu rechnen hätten. Der Vater der beiden Volksschulkinder beispielsweise hat die zwei ursprünglich mit der unreflektierten (so das Gutachten) Drohung erschreckt, er werde sie der Mutter wegnehmen. Das sei aber, führt der Gutachter milde ins Treffen, in letzter Zeit eh nicht mehr vorgekommen. Dass die Kinder immer noch Angst davor hätten, sei die Schuld der Mutter, die ihren großen Einfluß nicht benützt habe, um ihnen diese Angst zu nehmen.

Den großen Einfluß der Mutter nennt er gleichzeitig eine Gefährdung des Kindeswohls. Sie habe die Kinder symbiotisch eng an sich gebunden, schreibt er, das dränge die beiden in einen schweren Loyalitätskonflikt.

So oder ähnlich steht es neuerdings in vielen Gutachten, die für den Vater Partei ergreifen. Die Kinder haben eine enge Bindung an die Mutter. So, als wäre das etwas höchst Bedenkliches. Wäre es nicht viel bedenklicher, wenn die Kinder keine enge Bindung an ihre Mutter hätten? An wen, verdammt noch einmal, sollen kleine oder Kinder im Volksschulalter denn eng gebunden sein, wenn nicht an ihre Mutter? An den Vater? Ja, an den auch, durchaus. Aber geht aus der Bindung an die Mutter hervor, dass der Vater benachteiligt wird? Würde es dem Vater nützen, wenn die Kinder eine gestörte Beziehung zur Mutter hätten?

Häufig ist eine engere Bindung an die Mutter dann entstanden, wenn sich der Vater vor der Scheidung relativ wenig um die Kinder gekümmert hat. Ironischerweise hilft ihm das im Streitfall gegen die Mutter. Er hat ihr die Kinder überlassen, solange ihm das zuträglich war, jetzt benützt er die Tatsache, dass die Mutter zur Hauptbezugsperson wurde, gegen sie, und immer häufiger mit Erfolg.

Das zweite Schlüsselwort, das auftaucht, wenn es gilt, Mütter infrage zu stellen, heißt Bindungstoleranz. Bindungstoleranz bedeutet, dass ein Elternteil die Bindung des Kindes zum anderen Elternteil (und zu anderen für das Kind wichtigen Personen) respektiert und fördert. Sehr rasch wird Müttern mittlerweile der Befund mangelnde Bindungstoleranz zum Verhängnis. Nicht, dass es sie nicht gäbe. Aber warum wird sie so oft an Müttern diagnostiziert und so selten an Vätern, auch wenn der Vater derjenige ist, der ganz offensichtlich die Bindung der Kinder an den anderen Elternteil, diesfalls eben die Mutter, nicht erträgt? Und: Mit Eifersucht kann man letztlich alles begründen, der Verdacht ist leicht geäußert und schwer widerlegt. Die Mutter klagt, dass das Kind die Aufgaben nicht macht, wenn es beim Vater ist? Ach was, es geht ihr gar nicht um die Aufgaben – sie hält es nur nicht aus, dass es das Kind mit dem Vater und seiner neuen Freundin so lustig hat!

Nein, das ist kein Plädoyer dafür, Kinder als unabdingbar zur Mutter gehörig zu betrachten, aber es ist eine Warnung davor, ins umgekehrte Extrem zu verfallen. Anzeichen dafür mehren sich. Mutterliebe – deren Problemlösungskapazität traditionell auch überschätzt wurde – gilt zunehmend als Hinweis auf suspekte Charakterzüge, und die Liebe der Kinder zur Mutter als Beweis für eine krankhafte Bindung. Wollen wir das wirklich? Oder können wir noch rechtzeitig den Retourgang einlegen?