Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof „I bin doch net deppat …“

„I bin doch net deppat …“

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Sarajevo, im Frühsommer 1914: „Eine Bombe kam geflogen. Franz Ferdinand hob den Arm, die Bombe prallte ab, rollte über das zurückgelegte Verdeck nach hinten und explodierte auf der Straße. Mehrere Verletzte. Und dann hatte Franz Ferdinand die gesamte Wagenkolonne wenden lassen – mit dem längst historisch gewordenen Ausspruch: ‚I bin doch net deppat, i fohr wieder z’haus.‘ Zwei Jahre später: Thronbesteigung.“

So beschreibt der deutsch-österreichische Autor Hannes Stein die Grundvoraussetzung für die im Jahre 2000 angesiedelte Handlung seines höchst amüsanten Was-wäre-gewesen-wenn-Romans mit dem Titel „Der Komet“.

Das Buch ist bereits Anfang vergangenen Jahres erschienen. Ich habe es in den Weihnachtstagen gelesen und gerade am Vorabend des Hypes um den Kriegsausbruch vor 100 Jahren nicht nur lustig, sondern auch anregend gefunden.

Im fiktiven Geschichtsverlauf des Autors wird Franz Ferdinand also nicht ermordet. Der Erste Weltkrieg fällt aus. Die Russische Revolution findet ebenso wenig statt wie der Aufstieg Hitlers. Keine Sowjetunion. Kein Zweiter Weltkrieg. Kein Holocaust. Wie ging es aber ohne das Attentat von Sarajevo weiter? Ein interessantes Gedankenexperiment:
Das 20. Jahrhundert des Hannes Stein nimmt einen gemütlichen Verlauf. Die wesentlichen Staaten Europas bleiben Monarchien. Deutschland, die führende ökonomische Macht, liegt auch im wissenschaftlich-technologischen Bereich vorne. Amerika bleibt als eher hinterwäldlerischer Kontinent zurück – schließlich ist der Entwicklungsschub durch die vor Hitler geflohene europäisch-jüdische Intelligenz ausgeblieben.

Diese strömt nach Wien, in jene Stadt, die zum kulturellen Mittelpunkt der Welt geworden ist. Nicht in New York „spielt es sich ab“, sondern in Wien mit seinen Kaffeehäusern und Psychoanalytikern, Intellektuellen und Künstlern. Die Welt wird mit Filmen vom Rosenhügel beliefert anstatt aus Hollywood. Die Stadt, in der sich an der Jahrtausendwende der witzig-satirische Roman-Plot entfaltet, ist der Kern eines liberalen Österreichisch-Ungarischen Vielvölkerstaates, dem Machtzentrum Europas und der Welt.
Natürlich ist Steins launige Konstruktion der alternativen Geschichte nicht ernst zu nehmen. Wahrscheinlich hätte der Erste Weltkrieg, wäre Franz Ferdinand nicht von einem serbischen Nationalisten erschossen worden, einen anderen Anlass gefunden, um auszubrechen. Und war die Habsburg-Monarchie nicht schon vor Sarajevo und vor dem großen Krieg todkrank und zum Untergang verdammt?

Das freilich bestreitet der britische Starhistoriker Christopher Clark, dessen jüngstes Werk „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ gerade zum Bestseller wurde. Folgt man seiner Analyse Österreich-Ungarns in den ersten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, erscheint Steins Grundidee für seinen Roman nicht vollends absurd. Die k. u. k. Monarchie kommt bei Clark denkbar gut weg. Der Zerfall Österreich-Ungarns sei entgegen landläufiger Meinung keinesfalls historisch unvermeidlich gewesen, schreibt er. Das sei nicht ein Staat im Niedergang gewesen. Ganz im Gegenteil.

Im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts erlebte Kakanien eine industrielle Revolution. Österreich-Ungarn befand sich im Aufschwung. Clark weist darauf hin, dass in den letzten Jahren vor dem Krieg das Habsburger-Reich mit durchschnittlich 4,8 Prozent jährlicher Wachstumsrate eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaften hatte – mit einem entsprechenden Anstieg des allgemeinen Wohlstands. Die Säuglingssterblichkeit ging zurück, während die Anzahl der Grundschulen jene von Deutschland, Frankreich, Italien und Russland übertraf. Zweifellos tobte der Nationalitätenstreit. Aber Clark diagnostiziert „unmissverständliche Fortschritte in Richtung einer nachgiebigeren Nationalitätenpolitik“. Das lasse vermuten, „dass das System früher oder später ein umfassendes Geflecht aus Garantien für die Nationalitätenrechte innerhalb eines vereinbarten Rahmens konstruiert hätte“.

Gewiss löste damals eine politische Krise die andere ab. Und die führenden Kreise der Monarchie, die von Karl Kraus so scharfsinnig-karikierend vorgeführt wurden, waren ebenso wenig auf der Höhe der Zeit wie die unzähligen – dauernd streitenden – politischen Parteien. Aber inmitten der Unruhen herrschte, so Clark, eine „bemerkenswerte Stabilität“ – eine Stabilität, die in der für die damaligen Verhältnisse sehr entwickelten Rechtsstaatlichkeit und in einer effizienten Administration begründet war.

Also wäre Kakanien, so wie Hannes Steins retrospektive Zukunft insinuiert, historisch überlebens- und ausbaufähig gewesen? Wir wissen es nicht. Jedenfalls kann man als traurige Ironie der Geschichte werten, dass 1914 just jener Habsburger gekillt wurde, der gegen Krieg und für eine Reform des Reiches stand.

Und was lehrt uns Menschen des 21. Jahrhunderts all das? Nicht viel. Bloß zeigt uns die Geschichte das, was wir auch heute erleben: dass Österreich, wenn es eine gut funktionierende Verwaltung hat, auch mit einem überaus mediokren politischen Personal und inmitten einer Krise der Parteien wirtschaftlich erfolgreich und gesellschaftlich halbwegs dynamisch sein kann. Das hat Tradition.

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Georg Hoffmann-Ostenhof