Eva Linsinger: An der Untergrenze

Eva Linsinger: An der Untergrenze

Leitartikel: Die EU-Flüchtlingsdebatte wird zusehends überzeichnet und widerwärtig. Bitte einmal durchatmen!

Drucken

Schriftgröße

Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst der atemlosen Hysterie, der schamlosen Übertreibung, der kaltschnäuzigen Prinzipienlosigkeit und der überzeichneten Vergleiche. Seit Wochen dreht sich die Spirale der Aufheizung, immer neue Achsen der Böswilligen formieren sich, immer schrillere Horrorszenarien werden kreiert, immer bizarrere Scheinlösungen, der Nazi-Vergleich flutscht immer unbedachter. Wer die anschwellende EU-Flüchtlingsdebatte beobachtet, kann sich nur staunend die Augen reiben und bang fragen: Sind jegliche Dimensionen verloren gegangen? Und alle dabei durchzudrehen?

Die Ereignisse im Schnelldurchlauf: Der deutsche Innenminister Horst Seehofer will Flüchtlinge zurück-schicken. Kanzler Sebastian Kurz deklariert die Achse WienBerlinRom. Mit an Bord ein Rechtsextremist, Italiens Innenminister Matteo Salvini. Er untersagt einem Flüchtlingsschiff die Einfahrt in den Hafen. Der Kapitän des Schiffs steht vor Gericht. Binnen vier Wochen ertrinken 600 Menschen im Mittelmeer, Rettungsboote werden am Auslaufen gehindert. Österreichs Regierung regt an, das Asylrecht in Europa abzuschaffen. Seehofer feixt über 69 Abschiebungen an seinem 69. Geburtstag. Sein Parteifreund wittert „Asyltouristen“. Wer bietet mehr an Zynismus? Wer kann die Untergrenze des Sagbaren weiter verschieben?

Der Ausnahmezustand existiert nicht, im Gegenteil, die Zahl der Asylanträge ist so niedrig wie seit Jahren nicht.

Die EU scheint im Ausnahmezustand und nur ein Problem zu haben: Flüchtlinge. Bloß: Der Ausnahmezustand existiert nicht, im Gegenteil, die Zahl der Asylanträge ist so niedrig wie seit Jahren nicht. Das wäre ein idealer Zeitpunkt, um verantwortungsvoll zu diskutieren, wie Europa mit Schutzsuchenden und mafiösen Schleppern umzugehen gedenkt. Hyperventilierende Wettbewerbe, welcher europäische Politiker die härtesten Maßnahmen in der verrohtesten Textierung hinausplärrt, helfen nicht weiter.

Bitte alle durchatmen!

Einfache Antworten auf die so komplexe wie moralische Frage, wie sehr Europa zur Festung werden will und wie weit es bereit ist zu gehen, gibt es nicht. Die Grenzen zu schützen, darauf können sich alle einigen – nur: Das passiert längst. Seit dem bejubelten Fall von Berliner Mauer und Eisernem Vorhang entstanden rund um EU-Gebiet Tausende Kilometer an Sperrwällen und befestigten Anlagen. Die EU kann weitere, höhere Zäune bauen, sie von zusätzlichen Frontex-Patrouillen bewachen lassen – es ist aber pure Illusion, dass allein mit Abriegelung die Wohlstandszone EU unattraktiv für Zuwanderung wird.

Wer will, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen, wird investieren müssen.

Die viel zitierte „Hilfe vor Ort“ könnte einen wertvollen Beitrag leisten, allein: Sie fällt beschämend mickrig aus. Am Beispiel heimischer Beitrag zum Auslandskatastrophenfonds: Kümmerliche 20 Millionen Euro zahlt Österreich ein. Zum Vergleich: Das etwa gleich große Schweden 400 Millionen. Leider, leider fehlt Europas Politikern die Zeit, über Entwicklungspolitik, den „Marshallplan für Afrika“ oder gar Klimaschutz zu debattieren, sie sind mit der Flüchtlingsdiskussion ausgelastet.

Wer will, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen, wird investieren müssen. Auch „Anlandeplattformen“ sind nicht zum Nulltarif zu haben. Es werden sich Staaten finden, die derartige Abkommen schließen – wenn die EU eine überzeugende Geldsumme in die Hand nimmt, siehe Türkei-Deal. Gut möglich, dass Diktatoren und sinistre Potentaten die Gelegenheit nutzen, damit reich zu werden.

Derart kniffelige Gemengelagen stehen zur Debatte an. Höchste Zeit, sie fundiert zu führen, bevor die Flüchtlingsdiskussion vollends entgleist und ins Widerwärtige abrutscht – und die Europawahl im kommenden Jahr zum unwürdigen Wettstreit der Stammtischparolen mutiert.

Die EU steht am Scheideweg, politisch und moralisch. Die manchmal mühsame, stets aber hehre Idee vom vereinten, rechtsstaatlichen, solidarischen Europa stößt allenthalben an ihre Grenzen, genüsslich befeuert von Nationalisten und Rechtspopulisten. In der Flüchtlingspolitik zeichnet sich, scharf vorangetrieben von Österreich, ein Paradigmenwechsel an, und er hat das Zeug, zur veritablen Bewährungsprobe zu werden.

Wer Schutz verdient, soll ihn erhalten.

Für Österreichs Regierung, weil sie im EU-Vorsitz belegen kann, ob ihr nur an brachialen Law-and-Border-Parolen oder auch an seriösen Lösungen liegt. Für die EU, weil sie immerhin den Friedensnobelpreis trägt, verliehen 2012 für den Einsatz für Menschenrechte. Das bringt nicht nur eine schöne Zeremonie, sondern auch Verantwortung mit sich: Etwa jene, Menschen, die in ihrer Heimat verfolgt werden, Schutz und Asyl zu gewähren. Ja, die Menschen gibt es, auch wenn das im „Asyltouristen“-Geplärre unterzugehen droht. Und nein, wir Europäer nehmen längst nicht alle, auch wenn das Gegenteil suggeriert wird. Staaten wie Pakistan oder Libanon tragen die Hauptlast der Fluchtbewegungen. Natürlich kann die EU nicht allen offen stehen, die auf ein besseres Leben hoffen. Aber wer Schutz verdient, soll ihn erhalten. Wer das zur Disposition stellt, unterschreitet die Untergrenze zur moralischen Insolvenz.

Viel war zuletzt von zwei Sorten Mitleid die Rede, vom geringen für Flüchtlinge und vom großen für die Jugendlichen in der Höhle in Thailand. So einfach funktioniert die Welt 2018 nicht, nirgends. Einer der Jugendlichen ist staatenloser Flüchtling aus Myanmar.

[email protected] Twitter: @evalinsinger

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin