Eva Linsinger: Außer Tritt

Kanzlereskorte für Gabalier, Auszeit von der Staatsmann-Rolle, nervige Verwandte: Erstaunliche Lehren aus dem EU-Wahlkampf.

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Zum Gähnen langweilig, sinnentleert und unwichtig: So reizlos schätzten Politanalysten, Journalisten und andere notorische Besserwisser den EU-Wahlkampf ein – als lästige Pflichtübung, nicht mehr. Weit gefehlt: Selten erwies sich eine Europawahl als derart vielsagender innenpolitischer Test, selten offenbarten sich, verdichtet unter dem Wahlkampf-Brennglas, so gehäuft bemerkenswerte Erkenntnisse.

Sebastian Kurz ist der erste Natural Born European im Kanzleramt. Frühere Regierungschefs entwickelten sich, mehr oder weniger widerwillig, mehr oder weniger gelungen, im Lauf ihres Politikerlebens zu Europäern – Kurz war in der Volksschule, als Österreich der EU beitrat. Für ihn ist die EU keine mühselige Umstellung, sondern gewohnte Selbstverständlichkeit. Er ist der erste Kanzler, für den eine Europawahl ein Heimspiel auf vertrautem Terrain darstellen müsste. Eigentlich.

Die Mutation vom Schweigekanzler, der über fast allem steht, zum Dauerkommentator, der bei keiner Polemik fehlt, ging ein wenig gar abrupt.

Interessanterweise zeigte sich ausgerechnet Kurz im EU-Wahl-Endspurt erstaunlich wenig trittsicher, nicht nur gemessen an eigenen Messsage-Control-Standards. Erst fühlte er sich bemüßigt, die PKK-Teilnahme am SPÖ-Maiaufmarsch zu geißeln, dann rückte er gar höchstselbst aus, um Volks-Rock’n’Roller Andreas Gabalier zur Seite zu springen. Abgesehen davon, dass Entertainer Gabalier die Kanzlereskorte nicht braucht, er füllt auch so Stadien – Gabalier soll ein Fall für den Bundeskanzler sein? Echt jetzt? Will Kurz nicht nur Themen der FPÖ, sondern auch den Lieblingsmusiker kapern? Die Mutation vom Schweigekanzler, der über fast allem steht, zum Dauerkommentator, der bei keiner Polemik fehlt, ging ein wenig gar abrupt. Aus gutem Grund beschäftigen Parteien für Kleinkram Generalsekretäre und machen die tägliche Wadlbeißerei nicht zur Chefsache. Kann sonst unsouverän und kleingeistig wirken.

Und allzu viel Energie und Tagesfreizeit binden. Die leider dann für anderes fehlt: Acht EU-Staaten, Frankreich etwa oder die Niederlande, versammelten sich für einen Klima-Vorstoß und forderten einen rascheren und vehementeren Kampf Europas gegen die Klimakatastrophe ein. Ausgerechnet Österreich, das sich sonst gern als Umwelt-Musterland selbst lobt, war nicht dabei. Maiaufmarsch, Gabalier, Klima – alles eine Frage der Prioritätensetzung. In dem Fall zielsicher der falschen.

Immerhin, zur EU-Reform sprach Kurz und skizzierte seine Vorschläge für ein runderneuertes Europa. Schade bloß, dass ihm das nicht schon vor einigen Monaten einfiel, als Österreich den Ratsvorsitz innehatte und Reformen hätte anstoßen können. Der Zeitpunkt des Reformeifers macht Kurz’ Ideen inhaltlich nicht weniger richtig – bloß: Die Absicht, schnelle Marketingpunkte zu sammeln, schimmert gar unverhohlen durch.

In atemberaubend wenigen Wahlkampfwochen aperte derart viel Extremes hervor, dass die Regierungsfähigkeit der FPÖ ernsthaft infrage gestellt werden musste.

Der Zug zum Schlagzeilen-Tor und zur Überschriften-PR scheint dem spröden Othmar Karas fremd. Der EU-Experte wirkt in der neuen ÖVP merkwürdig aus der Zeit gefallen, in keiner Politpersönlichkeit wird augenscheinlicher, wie tiefgreifend der Wandel von Schwarz zu Türkis ausfiel. Noch im Jahr 2014 galt Karas zwar als etwas eigensinniger Überzeugungstäter, stand mit seinen christlich-sozialen Ansichten aber in der Mitte der ÖVP. Heute findet er sich mit denselben Positionen plötzlich am linken Rand wieder – und hält dort ziemlich allein die Fahne gegen den Rechtspopulismus hoch. Türkis fremdelt mit Karas, und Karas fremdelt mit Türkis – auf offener Bühne, die p. t. Wählerschaft darf live daran teilhaben, wie wenig alte und neue ÖVP zueinanderpassen.

Der Widerspruch, auch zu Karoline Edtstadler, war als inszeniertes Doppelspiel einkalkuliert – geriet aber genauso aus den Fugen wie die Wahlkampfzeit der Disharmonie mit der FPÖ. Ein bisschen mehr Europabashing und Radau dort, ein wenig mehr Brüssel-Fanclub und Seriosität da, das wurde von den Koalitionsstrategen eingepreist. Das ging gründlich schief. Die FPÖ kostete ihre Auszeit von der Staatsmann-Rolle exzessiv aus, attackierte ORF und Co, hielt die Theorie vom sogenannten „Bevölkerungsaustausch“ hoch, reihte Einzelfall an Einzelfall – kurz: In atemberaubend wenigen Wahlkampfwochen aperte derart viel Extremes hervor, dass die Regierungsfähigkeit der FPÖ ernsthaft infrage gestellt werden musste. Eine Wahlkampfleistung der besonderen Art.

Und die SPÖ? Deren Parteichefin Pamela Rendi-Wagner zeigt in diesem Wahlkampf, was sie am allerbesten kann: Absenz.

Bleiben die NEOS, die ernsthaft abzutesten scheinen, wie viel Europa Österreich mittlerweile zumutbar ist. Ausgang offen. Und die Grünen, die vor einem Comeback zu stehen scheinen: Ihnen geht es wie lästigen Verwandten, die bei jedem Familientreffen gehörig nerven – aber dann doch irgendwie abgehen, wenn sie nicht mehr eingeladen sind. Na gut, kommt halt wieder: Frei nach diesem Motto könnten die Grünen den Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit gewinnen und es ins Europaparlament schaffen.

Und die SPÖ? Deren Parteichefin Pamela Rendi-Wagner zeigt in diesem Wahlkampf, was sie am allerbesten kann: Absenz.

[email protected] Twitter: @evalinsinger

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin