Eva Linsinger: Willkommen in der Postdemokratie!

Politiker, die auf keinen Fall Politiker sein wollen. Parteien, die sich als Listen tarnen. Schrille One-Man-Shows und mutlose Akte der Selbsterniedrigung. Eva Linsinger über das Wahljahr 2017 und seine Konsequenzen.

Drucken

Schriftgröße

Hochnotpeinliche Ermittlungen des FBI, diplomatische Eklats: Vieles hat der US-Präsident, ein Mann von zweifelhaftem Ruf und mit überaus umstrittenen Methoden, mit der ihm eigenen Mischung aus Chuzpe und Derbheit ausgesessen. Doch dann stolpert er über sexuelle Übergriffe und muss unter Schimpf und Schande seinen Platz im Weißen Haus räumen.

Dieses schmähliche Ende ereilte nicht Donald Trump (der überstand sein "Pussy"-Gate), sondern Kevin Spacey, den Darsteller von Frank Underwood, dem amerikanischen Präsidenten in der Serie "House of Cards". Doch Fernsehserien und die tägliche Trump-Soap, Erdachtes und Erlebtes konnten heillos durcheinandergeraten in diesem irren Jahr, das Drehbuchschreiber und Politkabarettisten auf eine harte Probe stellte. Angesichts der Realität verblasste manchmal selbst die kühnste Fiktion. Wie soll man dadaistische Trump-Tweets toppen? Oder mit einer Wirklichkeit mithalten, die sich zusehends zur Dystopie entwickelt?

2017 im Schnelldurchlauf. Jänner, Trump wird angelobt. Seither rätseln die Experten, ob der Anführer der freien Welt eher senil, irre oder schlicht ahnungslos ist - und welche der drei Varianten am gruseligsten anmutet. - März, Wahlen in den Niederlanden. Die traditionellen Großparteien zerbröseln, getrieben vom Rechtspopulisten Geert Wilders, und es dauert ganze sieben Monate, bis endlich eine neue Regierung gebildet wird; wegen ihrer hauchdünnen Mehrheit von nur einer Stimme ist sie jedoch mit einem Ablaufdatum versehen. - Im Mai triumphiert in Frankreich Emmanuel Macron mit seiner Bewegung "En Marche" über das alte Parteienschema. Mittlerweile ist die Begeisterung für den Neuen auch schon wieder passé, die Zustimmungsraten dümpeln bei 38 Prozent. - Im September hat Deutschland ein Rendezvous mit dem Rechtspopulismus: Die AFD zieht in den Bundestag ein. Seither sträuben sich alle Parteien, mit Angela Merkel zu regieren - wohlgemerkt in einem Staat, in dem die Konjunktur brummt, satte Budgetüberschüsse erwirtschaftet werden und die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie nie seit der Wiedervereinigung. Trotzdem will die SPD die Große Koalition nicht fortsetzen, weil ihr bärbeißiger Vize-Obmann Olaf Scholz "negative Folgen für unsere Demokratie" sieht. FPD-Chef Christian Lindner wird im EU-Magazin "Politico" für sein Njet zur Jamaika-Koalition mit Platz eins unter den spannendsten Europäern geadelt. - Im Oktober schließlich Österreich: Ein 31-Jähriger, der sein ganzes Erwachsenenleben in der Politik verbracht hat, stilisiert sich als Erneuerer, benennt seine Partei in "Liste Kurz" um, übertüncht altes Schwarz mit neuem Türkis, plakatiert "Zeit für Neues" und überzeugt damit alle Missmutigen, denen "das Alte" schon lange auf die Nerven geht. Das vermeintlich "Neue" muss gar nicht konkretisiert werden. Egal was, Hauptsache anders!

Politik degeneriert immer öfter zur One-Man-Show. Niemand will mehr eine Partei sei.

Was passiert da gerade? Und wo führt es hin? Evident sind die beiden prägenden Motive, die diesseits und jenseits des Atlantiks das turbulente Wahlund Richtungsjahr 2017 bestimmten: der diffuse Wunsch nach Veränderung -und die Dauerkonfrontation mit Nationalisten. Das zeitigt Konsequenzen: Parteiensysteme implodieren. Nachkriegsordnungen geraten aus den Fugen. In atemberaubendem Tempo schwinden Gewissheiten. Politik degeneriert immer öfter zur One-Man-Show. Niemand will mehr eine Partei sei. Viele scheuen Regierungsverantwortung. Populismus-Automaten siegen vor Programmen oder gar, wie langweilig, Inhalten.

Willkommen in der Postdemokratie!

Österreich, schon von Karl Kraus zur "Versuchsstation für den Weltuntergang" erklärt, ist wie immer einen Schritt voraus. Hier scheint die düstere Vision, die der britische Politologe Colin Crouch vor über einem Jahrzehnt in seinem Standardwerk "Postdemokratie" zeichnete, weitgehend Wirklichkeit geworden zu sein. Crouch definierte Postdemokratie als einen Staat, "in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, die sogar dazu führen können, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentlichen Debatten während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommen".

Politiker, zusehends mit dem Verlust von Autorität und Respekt konfrontiert, importieren Methoden aus Branchen, deren Selbstvertrauen noch intakt ist: Showbusiness und Marketing. Kampagnen werden nach dem Starprinzip strikt auf Personen zugeschnitten (Kern wählen! Kurz wählen! HaCe wählen!), hinter denen die Parteien nahezu verschwinden. In einer von einem einzigen Thema dominierten, hysterisch aufgeladenen Auseinandersetzung müssen "die Flüchtlinge" als Generalantwort auf Fragestellungen aller Art herhalten. "Der Zeitgeist ist gegen die da oben und die da draußen. Der Zeitgeist ist passiv-aggressiv. Der Zeitgeist ist in Österreich in seiner Reinform zu betrachten", analysierte die "Süddeutsche Zeitung" nach der Nationalratswahl.

Um das Ausmaß der postdemokratischen Verwerfungen abzuschätzen, kann es hilfreich sein, einige der Grundmuster des Nationalratswahlkampfs 2017 Revue passieren zu lassen. Getreu der Erkenntnis, dass Populisten einen Gutteil ihrer Energie aus der Wut auf die sogenannten Eliten ziehen, geriet die Wahl, eigentlich das Hochamt einer Demokratie, zum befremdlichen Wettstreit, welcher Politiker denn am wenigsten einem Politiker ähnelt. Die Kandidaten gaben sich alle Mühe, wie verärgerte Bürger zu wirken, die Politik nicht mehr den altbekannten Politikversagern überlassen wollten. Glaubwürdig? Egal!

Das Polit-Schlachtross Peter Pilz erklärte pathetisch, er habe von Parteien "die Nase voll" - vor allem von seiner eigenen Langzeit-Partei, den Grünen, auf deren Ticket er Jahrzehnte Karriere gemacht hatte. Die "Liste Pilz" hatte außer seinem Namen nicht viel Programm zu bieten und schaffte es trotzdem in den Nationalrat. Leider konnte Pilz den Überraschungserfolg nicht auskosten; er erlebte nicht einmal seine Angelobung, weil er nach Vorwürfen sexueller Belästigung zurücktrat (irgendwie dann aber auch wieder nicht). In der heillosen Verwirrung, die er hinterlässt, muss seine bunt zusammengewürfelte Truppe aus engagierten Politneulingen, sendungsbewussten Zauseln und aussortierten Grün-Politikern nun mühevoll definieren, wofür sie eigentlich stehen will. Wird der meinungsstarke Citoyen und Anwalt Alfred Noll sich durchsetzen? Oder der gefallene Held Pilz ein Comeback feiern? Bleiben Sie dran - die nächste Soap-Folge kommt bestimmt!

Wer soll der Arbeit von Politikern noch einen Wert zugestehen, wenn sie es selbst nicht tun?

Matthias Strolz, der hypermotivierte Chef der NEOS, stets bemüht, den Wind des Zeitgeists im Rücken zu haben, wollte nicht alt aussehen und forderte ein Berufsverbot für länger dienende Politiker. Zehn Jahre im Parlament müssten genug sein. Laien hui, Politiker pfui! Das Resultat waren bizarre TV-Diskussionen mit Irmgard Griss, in denen die NEOS-Listenzweite sich vom Moderator darüber aufklären lassen musste, welche Standpunkte ihre Partei eigentlich vertritt. Ebenso unfreiwillig komisch der sperrige Parteiname: "NEOS, das neue Österreich gemeinsam mit Irmgard Griss, Bürgerinnen und Bürger für Freiheit und Verantwortung." Was tut man nicht alles, um den Anschein zu erwecken, keinesfalls einer Partei zu ähneln?

Christian Kern wiederum versicherte eilfertig, seine SPÖ sei "schon seit 128 Jahren eine Bewegung". Dieser Etikettenschwindel half ihm auch nicht mehr. Der einst als Überflieger Gefeierte sicherte sich bei der Wahl einen Spitzenplatz - allerdings einen, auf den er wohl gern verzichtet hätte: jenen als kürzestdienender Bundeskanzler der Zweiten Republik. In Niederösterreich, wo Ende Jänner gewählt wird (der nächste Wahlgang also, bei dem für die SPÖ nicht viel zu holen sein wird), sucht der rote Spitzenkandidat Franz Schnabl sein Heil in der "Liste Schnabl". Wenn nicht einmal mehr SPÖ-Politiker an die Marke SPÖ glauben - warum sollten es dann die p. t. Wähler tun?

Der Höhenflug der "Liste Kurz -die neue Volkspartei" dagegen hat das Zeug, in Lehrbücher für postdemokratische Kampagnen einzugehen. Man nehme: einen Berufspolitiker, der sich listig als Systemstürmer geriert; nirgendwo dabeigewesen sein will, schon gar nicht bei Beschlüssen der Regierungen, denen er angehörte; ein Wahlprogramm vorlegt, das aus mehr Leerstellen als konkreten Inhalten besteht; der stattdessen im Wochentakt neue Quereinsteiger auf die Bühne bittet: Der Polizeikommandant, die Opernball-Lady, der "Science-Buster", die querschnittgelähmte Ex-Stabhochspringerin brachten keinerlei Qualifikation für ein politisches Amt mit - außer dem vermeintlichen Vorzug, bisher keines ausgeübt zu haben. Konsequenterweise war von ihnen nach der pompösen Präsentation nichts mehr zu vernehmen.

Das Generalmotto "Politiker sind nichts wert" fand nach der Wahl ihre logisch-populistische Fortsetzung: Auf Initiative von Sebastian Kurz beschloss der neue Nationalrat einstimmig eine Nulllohnrunde für Politiker -ein erbärmlicher Akt der Selbsterniedrigung. Seit dem Jahr 1998 verloren Politikergehälter über 33 Prozent an Wert; der eigene Verdienst wird trotzdem permanent nach unten lizitiert. Damit untergräbt die Politik das Wenige, was ihr noch an Ansehen geblieben ist, mutwillig selbst - schlimmer noch: Sie verstärkt ein Symptom, das sie zu bekämpfen vorgibt. Wer soll der Arbeit von Politikern noch einen Wert zugestehen, wenn sie es selbst nicht tun? Lautstark den eigenen Berufsstand zu diskreditieren, kommt einer Selbstabschaffung nahe.

In der österreichischen Variante der Mediendemokratie werden von Boulevard- und Qualitätsmedien permanent Haltungsnoten für die "Performance" von Politikern verteilt.

Schon vor Jahrzehnten sah die kritische Publizistin Hannah Arendt den Tiefpunkt des politischen Diskurses erreicht: "Nur in Wien, wo alles Politische zum reinen Theater geworden war, konnte das Theater sich an die Stelle aller Realitäten setzen." Im deutschen Wahlkampf stellten sich Angela Merkel und Martin Schulz einer einzigen TV-Debatte - hierzulande wurde in nicht weniger als 60 Fernsehduellen geschauspielert, hemmungslos outriert und im Dauerton hochgradiger Gereiztheit aufeinander eingequasselt. Der Text änderte sich wenig, das Publikum machte mit und dankte mit Rekordquoten. Nur grübelnde Bedenkenträger wie der Schriftsteller Karl-Markus Gauß konstatierten angesichts des Mega-Spektakels besorgt: "Ich bin einer von vielen, die glauben, dass der Overkill an Debatten und Diskussionsrunden nicht der Demokratie dient."

Höchstens der Postpolitik. In der österreichischen Variante der Mediendemokratie werden von Boulevard- und Qualitätsmedien permanent Haltungsnoten für die "Performance" von Politikern verteilt. Die eigentliche Paradedisziplin, der Wettstreit von Ideen und Argumenten, gerät dabei allzu oft in Vergessenheit. Der Schriftsteller Franz Schuh spricht von der "Absurdität des selbstregulativen Systems: Medienberater schulen Politiker. Andere Medienberater interpretieren, ob Politikern ihre Aussagen gut gelungen sind, und der Journalismus steht daneben und moderiert das, was die Medienberater den Politikern gesagt haben. Das ist ein idiotisches System."

Demokratie lebt davon, verschiedene Varianten mit Leidenschaft und guten Argumenten zu diskutieren.

Von dem sich zu Recht immer größere Bevölkerungsgruppen angewidert abwenden, keineswegs nur in Österreich. Der bulgarische Theoretiker Ivan Krastev, der aktuelle Popstar der Politikwissenschaft, vertritt in seinem Essay "In Mistrust We Trust" die These, dass grassierendes Misstrauen die Demokratie akut bedroht. Nach seiner Theorie ist Kontrolle der Macht und der Machthaber essenziell - wenn aber die Stimmung kippt und alle Parteien und Politiker nur noch negativ konnotiert sind, ist der Bogen überspannt. Denn ohne gewisses Grundvertrauen kann Demokratie nicht überleben.

Hierzulande scheint die traditionelle obrigkeitsstaatliche Parteienhörigkeit mittlerweile ins ebenso ungesunde Gegenteil gekippt: tiefe Verachtung für Politiker und die heimische Ausformung der Parteiendemokratie. Das Vertrauen wurde über Jahrzehnte unterminiert: von Politikern, die außer Nehmerqualitäten wenig Kernkompetenzen aufweisen; vom lähmenden Stillstand der ewigen Großen Koalition; von populistischen Altmeistern wie Jörg Haider, der gegen Politikerbonzenprivilegien anrannte und den Parteienstaat nachhaltig destabilisierte; von Wahlbehörden, die zerfledderte Wahlkuverts verschickten und dazu beitrugen, dass es fast ein quälendes Jahr dauerte, bis endlich ein neuer Bundespräsident gewählt werden konnte.

Und vom Schlüsselwort der Finanz-Euro-Wirtschaftskrise: "alternativlos". Ein verhängnisvoller Begriff, denn wenn es nur einen einzigen möglichen Weg gibt, wenn es müßig ist, Alternativen zu erwägen, dann erübrigen sich Politik und Parteien tatsächlich. Demokratie lebt davon, verschiedene Varianten mit Leidenschaft und guten Argumenten zu diskutieren. Der deutsche Soziologe Armin Nassehi formuliert es so: "Der stärkste Feind des demokratischen Mechanismus, alternative Modelle gegeneinanderzustellen, ist tatsächlich das Gefühl, dass niemand die Dinge im Griff hat."

Dieses Gefühl ist in Österreich weit verbreitet, genauso wie Apathie und der Wunsch, dass endlich etwas anders wird, egal wie. Im vergangenen Jahrzehnt erodierte das Vertrauen in die Demokratie: Nur noch 78 Prozent nennen Demokratie die beste Regierungsform. Und 23 Prozent sind für einen "starken Führer", inklusive Systemwechsel.

Willkommen in der Postdemokratie!

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin