Eva Linsinger
Leitartikel

Eva Linsinger: Schafft die Regierung das?

Das politische Spitzenpersonal leidet unter Qualitätsverfall. Ein Gesamtplan gegen die Multi-Krisen fehlt.

Drucken

Schriftgröße

Nicht einmal Scherze gelingen. Nach mehrtägiger Schrecksekunde blieb Karl Nehammer nichts mehr übrig, als sich für sein plumpes „So viele Viren“-Corona-Witzchen am ÖVP-Parteitag zu entschuldigen. Eigentlich könnte ein derartiger Lapsus als Petitesse durchgehen – wenn der Regierungschef und seine Regierung sonst überzeugende Arbeit leisten würden. Betonung auf „würden“. Denn derzeit reiht sich Verbalunfall an handwerklichen Patzer: Der mit Gedöns angekündigte Energiegutschein wird erst irgendwann nächstes Jahr gelten, Flüchtlinge aus der 
Ukraine warten zu lange auf finanzielle Unterstützung, der verhudelte Pfusch Impfpflicht harrt der Konkretisierung – und zwischen den Fehlleistungen sprudelsprechen Politikerinnen und Politiker dadaistische Textbausteine, die bei ständiger Wiederholung noch weniger Sinn ergeben.

Und immer banger stellt sich die Frage: Hat unser politisches Spitzenpersonal womöglich ein ernsthaftes Qualitätsproblem? 

Denn schwerer als die Kette von Detailpannen wiegt die veritable Leerstelle: Wo ist sie denn, die große Vision, wie Österreich mit der Ukraine-Zeitenwende umzugehen gedenkt? Despot Putin führt Krieg. Millionen Menschen flüchten. Die Inflation klettert auf immer neue Höhen. Energiepreise explodieren. Der größte Wohlstandsverlust seit 1955 droht. Corona ist auch nicht vorbei. Multiple Krisen überlappen und befeuern einander. Da wäre es reichlich tröstlich, zu wissen, dass eine Regierung am Werk ist, die Führung signalisiert und vermittelt, zumindest in Konturen einen Masterplan zu haben und diesen entschlossen umzusetzen. 

Die Begründung, die Mehrheit Österreichs wolle keine Veränderung bei der Neutralität, ist, mit Verlaub, dämlich.

Leider begibt sich das Gegenteil: Die sicherheitspolitische Debatte, ob Österreichs heimelige Neutralität nach dem russischen Angriff auf die Ukraine noch zeitgemäß ist, will vom Kanzler abwärts niemand führen – weil die Mehrheit Österreichs keine Veränderung will. Das ist, mit Verlaub, eine dämliche Begründung. Erstens will die Mehrheit Österreichs auch vieles andere nicht, zum Beispiel hohe Steuern auf Arbeit zahlen, ohne dass das die Politik kümmert. Zweitens schafft sich jede Regierung, die ausschließlich der Mehrheit folgt, selbst ab – denn dann reichen wirklich Meinungsumfragen, dann braucht es keine Politik mehr. Wohlgemerkt: Es ist durchaus möglich, dass ein NATO-Beitritt keine gute Option für Österreich ist – aber zu der Schlussfolgerung sollte man nach ausgiebiger Debatte kommen und nicht durch plumpe Verhängung eines Diskussionsverbots. Politik bedeutet auch den Wettstreit der Argumente, um damit Mehrheiten zu gewinnen. Wer das verweigert, verengt den Handlungsspielraum.

Weitere Beispiele: Wo bleibt die nachhaltige Strategie, Österreich unabhängiger von Russlands Gaslieferungen zu machen? Wo der Notfallplan für Gasknappheit? Wo der energische Bund-Länder-Turbo beim Ausbau von Alternativenergie? Wo das ausgefeilte Konzept gegen Teuerung? Umfassende Antworten auf all diese drängenden Krisen-Fragen blieb ÖVP-Grün bisher schuldig. Womit die Zweifel immer lauter werden: Schafft die Regierung das? Oder ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit dauernden Ministerwechseln und anderer Nabelschau?

Gewiss: Türkis-Grün regiert unter Extremumständen. Zwei Monate nach Amtsantritt von einer Corona-Pandemie überrollt, nach der Gesundheitskrise nahtlos vom Krieg in Europa überrascht zu werden, das bedeutet steile Problemberge, mit denen seit Jahrzehnten keine österreichische Regierung zu kämpfen hatte. Fast wehmütig denkt man manchmal an Zeiten zurück, wo das nervenzerfetzendste innenpolitische Ereignis des Monats aus Beamtengehaltsverhandlungen oder Ähnlichem bestand. Und: Niemand behauptet, dass es einfache Lösungen für all die komplexen Herausforderungen von Gas bis Sicherheit gibt. Nicht zuletzt: Es wäre falsch, zu behaupten, dass die Koalition Arbeitsverweigerung betreibt, sie packt durchaus große Brocken wie das Thema Pflege an und legte auch allerhand Einzelmaßnahmen gegen Teuerung und Energiekrise vor. 

Bloß: Über einzelne Maßnahmen kommt die Regierung nicht hinaus, der gesamthafte Weg gegen die Multi-Krisen fehlt. Klartext auch. Ein Cheferklärer oder eine Cheferklärerin sowieso. Etwa jemand wie der deutsche Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, der schonungslos bittere Wahrheiten formuliert, sich nicht scheut, Selbstzweifel genauso direkt anzusprechen wie das Dilemma, dass jedes Konzept gegen die Krise auch Nachteile hat – und trotz der ehrlichen Krisenkommunikation glaubhaft den Eindruck erweckt, mit Hochdruck an der Bewältigung der Krisen zu arbeiten. Habecks Videos gehen viral, offensichtlich existiert tiefes Bedürfnis nach derartigem Politikstil. 

Die heimische politische Klasse scheint dazu (bisher?) nicht fähig. Findet sich wirklich Top-Personal für den hehren Beruf Politik? Jahrzehntelange populistische Debatten über echte und vermeintliche Politikerprivilegien haben ihre Spuren hinterlassen, Politik ist mittlerweile ein (im Vergleich zu Managementpositionen in der Wirtschaft) schlecht bezahlter Beruf mit viel Stress und wenig Ansehen, noch dazu unter dauernder öffentlicher Beobachtung. Die Verschleißerscheinungen sind enorm.

Zweieinhalb Jahre regiert Türkis-Grün. Mit dem dritten Kanzler, mit dem dritten Gesundheitsminister, mit sieben Regierungsumbildungen und 20 Regierungserklärungen im Parlament. Jetzt, nach den erfolgreich absolvierten Parteitagen bei ÖVP und Grünen und vor den nächsten Wahlen, hat die Koalition ein Zeitfenster. Sie wäre gut beraten, es zu nützen. Sonst schafft sie die Krisen nie.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin