Sechs Gründe für die veränderte Haltung der Österreicher zu Flüchtlingen

Peter Michael Lingens: „Eine hatte Stöckelschuhe an“

„Eine hatte Stöckelschuhe an“

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So wie sich die militärische Lage rund um den „Islamischen Staat“ darstellt, kommt die größte Flüchtlingswelle der jüngsten Geschichte auf uns zu. Wir sind darauf etwa so vorbereitet, wie wir es auf die Finanzkrise waren.

Anfang der vergangenen Woche berichtete der „Standard“ immerhin vom Vorschlag der burgenländischen Landessprecherin der Grünen, Regina Petrik, einen „Humanitätsbonus“ für Gemeinden zu schaffen, die sich bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen: Sie sollten finanzielle Zuschüsse zu Infrastrukturprojekten erhalten.

Darauf folgte folgende Reaktion einer Mehrheit der „Standard“-Leserbriefschreiber:

„Armutsimport zur Arbeitsplatzbeschaffung im staatlich finanzierten Sozialsektor.“

„Umverteilung vom Inland ins Ausland.“

„Wir bezahlen schon genug für die Flüchtlinge, und Arbeit gibt’s nicht einmal für uns genug. Die werden vom Taschengeldbezieher plus Kost und Logis gratis übergangslos zu Mindestsicherungsempfängern … mich geht das schon so an, wie blöd wir hier sind, alles und jeden aufzunehmen.”

„Zu uns schaffen tun es nur Reiche, die Schlepper zahlen können. Eine hatte Stöckelschuhe an … “

Die Haltung zum Thema Flüchtlinge hat sich längst nicht nur am rechten Rand, sie hat sich bis hin zu den ­Lesern des „Standard“ verändert: Bürgermeister, die es, wie in Baden, ablehnen, Flüchtlinge aufzunehmen, können mit dem Applaus einer breiten Mehrheit der Bevölkerung rechnen.

Der „Österreichische Buchklub der Jugend“ hat die undankbare Aufgabe übernommen, Jugendliche mit dem Thema „Flüchtlinge“ zu konfrontieren. In einem Band seiner Buchreihe „Crossover“ mit dem Titel „Offene Grenzen“ beschreibt die Schriftstellerin Jutta Treiber, wie der Bürgermeister ihrer Heimatgemeinde Oberpullendorf 1956 reagierte, als sich der Flüchtlingsstrom aus Ungarn nach ­Österreich ergoss: „Eines Tages teilte uns unsere Lehrerin mit, dass von nun an der Unterricht nicht mehr in der Volksschule selbst, sondern in der Hauptschule stattfinden würde, und zwar nachmittags. Der Grund für die Umschichtung: Die Volksschule war von einem Tag auf den anderen in ein Flüchtlingslager umfunktioniert worden.

Dazu genügte es, dass der Bürgermeister die Bevölkerung zusammentrommelte und die Bürger seiner Gemeinde bat, Flüchtlinge in ihren Häusern aufzunehmen, was die meisten ganz selbstverständlich taten. Aber da es trotz der großen privaten Hilfsbereitschaft zu wenig Platz gab, funktionierte der Bürgermeister kurzerhand die Volksschule zu einem Flüchtlingslager um. Die Hauptschule stand am Nachmittag sowieso leer – was wäre also das Problem gewesen? Das sahen offensichtlich alle anderen genauso.“

„Man stelle sich dieselbe Situation heutzutage vor“, schossen der Autorin beim Schreiben die gleichen Gedanken wir mir beim Lesen durch den Kopf. „Ich denke, so eine Entscheidung wäre unmöglich.“

Was ist passiert, dass heute so unmöglich ist, was damals so selbstverständlich war? Obwohl wir ungleich reicher als damals sind? Obwohl uns nicht, wie 1956, die Rückkehr der sowjetischen Panzer droht, weil wir uns mit Flüchtlingen solidarisieren?

• Sicher standen uns 1956 die Ungarn, 1968 die Tschechoslowaken und 1995 die Bosnier geografisch wie historisch – und damit emotional – sehr viel näher als Syrer oder Iraker, die vor tyrannischen Regimes oder mörderischen Kriegen fliehen. Empathie vermindert sich mit jedem Kilometer Entfernung, und wenn kulturelle Unterschiede hinzutreten, vermindert sie sich zum Quadrat.

• Hinzu treten Jahrzehnte kleinformatiger Berichterstattung und FPÖ-Agitation zum Thema „Ausländer“, mit denen „Flüchtlinge“ zunehmend gleichgesetzt werden. Beide werden als unerwünschte Eindringlinge empfunden.

• Dieser Stimmungsmache sind SPÖ und ÖVP nicht offensiv entgegengetreten, sondern haben sich ihr osmotisch angenähert.

• Die Grünen sind ihr als einzige offensiv entgegengetreten, haben aber das „Flüchtlings“- und das „Ausländer“-Thema auch selten scharf getrennt und vor allem die unbestreitbaren Probleme, die die Aufnahme sehr vieler „Fremder“ bereitet, lange Zeit völlig geleugnet und stattdessen ausschließlich von der „kulturellen Bereicherung“ gesprochen. Das hat sie Glaubwürdigkeit gekostet.

• Die wirtschaftliche Stimmung, die noch bis etwa 2000 eine halbwegs positive war und daher eine gewisse Generosität zuließ, ist 2007 endgültig gekippt: Die Angst, den Job zu verlieren, ist enorm gewachsen – und mit ihr die Sorge vor dem Zuzug beziehungsweise der Aufnahme von Arbeitskräften.

• Nicht zuletzt glaube ich, dass die demografische Entwicklung Österreichs die Haltung seiner Bürger verändert hat: „Einheimische“ sind fast nur mehr „Einzelkinder“ – gewohnt, alles zu bekommen und nichts mit anderen teilen zu müssen.

Ich glaube, dass das erheblich dazu beiträgt, dass es dieser Generation der „Ichlinge“ (Autor Stephan Valentin) so schwerfällt, ihr Einkommen, ihr Vermögen oder eben ihre Wohngegend mit sozial Schwächeren, Geringverdienern, Zuwanderern oder Flüchtlingen zu teilen.

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