Kolumne

Fortschritt!

Wir müssen wieder lernen, was zu wollen, und zwar dalli.

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Früher war nix besser, aber vieles schien einfacher zu sein. Jeder wollte es besser haben. Und alle meinten damit ungefähr das Gleiche: Weniger harte Arbeit, mehr Freizeit, mehr Auswahl in den Geschäften und mehr Freiraum im Leben. Dafür gab es eine Vielzahl an Bezeichnungen und Symbolen, aber all das band der große Begriff des Fortschritts zusammen.

Das ist ein Wort, mit dem sich früher alle anfreunden konnten. Fortschritt war, wenn die Dinge, das Leben und die Perspektiven besser wurden, manchmal gemächlicher, wie in den Jahren vor den großen Weltkriegen, manchmal schneller, wie in den Wirtschaftswunderjahren. In jedem Fall galt, was die deutsche Gruppe Fehlfarben in den bereits von Rückschlägen gekennzeichneten 1980er-Jahren sang: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!“ Das war vielleicht nicht ganz so gemeint, aber trotzdem richtig. Kein Projekt in der Menschheitsgeschichte war so wirksam für die meisten Leute wie die Industrielle Revolution, die seit der Wende vom 18. zum 19 Jahrhundert alles veränderte, was bis dahin in Stein gemeißelt schien. Der Fortschritt sorgte dafür, dass Technik das Leben der Menschen leichter machte. Wer jemals auch nur versucht hat, mit schlechtem Werkzeug einen Baumstumpf oder große Steine aus einem Acker zu entfernen, der weiß, wie schön ein Traktor ist. Der Fortschritt verteilte langsam einige Güter für viele, wenn auch nicht alle, aber eben fast – und der Lebensstandard in Westeuropa, so hat es die OECD vor auch schon wieder 25 Jahren ausgerechnet, verfünfzigfachte sich. Die Leute lebten dreimal länger als ihre Urgroßeltern.

Nach einiger Zeit waren sie in der Konsumgesellschaft angelangt, die bislang intensivste Entwicklungsform jenes Industriekapitalismus, der Arbeit und Wohlstand brachte, aber auch eine tiefe Melancholie, wenn nicht sogar Allergie gegen das, was einen in bessere Lebenslagen versetzte. Klar, Geld und Konsumartikel sind nicht alles, erst recht nicht, wenn man reichlich davon hat oder wenigstens so viel, dass niemand verhungert oder erfriert, jedenfalls nicht wegen materieller Mängel. Das ist alles nicht selbstverständlich.

Trotzdem ist der Fortschritt in Verschiss geraten. Er ist an allem schuld. Die Computer sind schuld an der Verwahrlosung der Kinder. Die vollen Supermärkte sind schuld am Übergewicht und der ständigen Qual der Wahl. Das Internet ist schlecht, weil so viel drin ist, dass niemand einen Überblick hat. Die Auswahl ist schlecht, weil wir auswählen müssen.

Niemand bestreitet, dass zu viel (und vor allen Dingen rückständige) Industrie schlecht ist für Mensch und Planet. Da wäre es besser, wenn wir deindustrialisieren. Aber das geht nur dann gut, wenn wir den Fortschritt, der uns ständig zwingt, dazuzulernen, mehr zu wollen, nicht länger als Teufelswerk verdammen. Wir könnten die alten, stinkenden, klima- und menschenfeindlichen Fabriken dichtmachen und dafür die besten, neuesten, tollsten Produktionsstätten, digitalisiert bis unter die Dachkante, bauen. Dazu müsste auch klar sein, dass Teile des Mehrwerts, den der Fortschritt bringt, in die soziale Sicherung jener geht, die man dann nicht mehr in den Fabriken braucht, in denen, schaut mal genauer hin, heute schon ganz wenige Leute arbeiten und ganz viele Roboter und Algorithmen mit dem Schwanz wedeln.

Wir müssen das Wissen und die Neugierde und die Innovation als wichtigste gesellschaftliche Kraft loben und fördern und preisen, und nicht das Nörgeln und das träge Abwinken, wie es seit langem Brauch ist in den Wohlstandsländern.

Wir müssen uns erinnern, wie wir wurden, was wir sind, und wir müssten uns eingestehen, dass wir die Produkte und Güter und die Vielfalt nicht dafür verantwortlich machen können, dass wir nicht mit ihnen umgehen können. Die großen Fortschritte dieser Zeit hießen also: sich ehrlich machen und die Wirklichkeit akzeptieren. Das wäre der große menschliche und kulturelle Fortschritt, auf dem alles andere aufbauen kann. Nicht bräsig immer das Gleiche machen, das schon lange zu nichts mehr führt, sondern Neues ausprobieren, Experimente fördern. Die Leute, die das tun, hochleben lassen. Das war schon mal so, in der sogenannten Gründerzeit, in der der Fortschritt überall gepriesen wurde.

Für die trägen Europäer wäre eine solche Fortschrittszeit der Neugierigen eine Heilung ihrer Jammerei. Lernt, auszuwählen. Lernt, etwas zu probieren. Geht den nächsten Schritt. Und wenn ihr euch nur hinlegen wollt, dann bitte nicht länger mitten auf den Weg, auf dem andere einen Schritt nach dem nächsten machen wollen. Vor allem auch die, die heute noch vom Machen ausgesperrt werden: viele Frauen, die nicht von 9 bis 5 im Büro sitzen, aber dafür überall gut denken können und den Fortschritt befördern. Oder Leute von woandersher, die ihre Chancen bei uns suchen, bei denen also, die Chancen oft schon als Zumutung und Störung ihrer wohlerworbenen (also angeborenen) Rechte empfinden. Klug ist das nicht. Wer dem Fortschritt ein Bein stellt, fällt nur selbst auf die Nase.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.