Sebastian Loudon ist Journalist und Österreich-Repräsentant des Hamburger ZEIT-Verlags
Gastkommentar: Die Pflicht zur Zuversicht

Gastkommentar: Die Pflicht zur Zuversicht

Gastkommentar: Die Pflicht zur Zuversicht

Drucken

Schriftgröße

Es ist jedes Mal ein ganz besonderer Moment, wenn in privater, fröhlicher Runde das alles überlagernde Thema zur Sprache kommt: Wie reagieren wir auf die scheinbar unlösbaren und unsere Gesellschaft spaltenden Aufgaben, denen wir uns angesichts der Flüchtlingsbewegungen gegenübersehen? So viel kann man gar nicht blödeln, dass nicht plötzlich Ratlosigkeit, Sorge, ja und manchmal auch Angst artikuliert werden. Und überhaupt: Ölpreis, China, Klima? Was passiert mit der Welt, in die unsere Kinder hineinwachsen? Von diesem Moment an dominiert eine düstere Nachdenklichkeit die Runde. Denn es ist doch so: Egal auf welcher Ebene man das Flüchtlingsthema bespricht – der Diskurs verliert sich, zurück bleiben große Augen und betroffene Blicke.

Ja, es gibt sie, die Hoffnung machenden Erfahrungen von Menschen, die Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben. Besonders am Land scheint es gut zu funktionieren. Aber in den großen Städten hat sich seit dieser verfluchten Silvesternacht ein vorurteilbehaftetes Misstrauen gegenüber jungen Männern mit Migrationshintergrund verselbstständigt. Das führt ohne großen Umweg in eine alltägliche, manchmal stümperhaft als Schutzmaßnahme getarnte Diskriminierung – ob im Hallenbad, im Discotempel oder am Arbeitsmarkt. Und diese Diskriminierung und das ihr zugrundeliegende Misstrauen können kein anderes Ergebnis haben als Frust, Kränkung, Wut der solcherart Ausgegrenzten. Ein verheerender Gefühlshaushalt und ein fruchtbarer Boden für jegliche Radikalisierung. Noch immer leisten so viele Österreicher unbeschreiblich viel, geben gestrandeten Menschen eine neue Hoffnung, wachsen über sich hinaus. Und so unersetzbar die Freiwilligen, Großzügigen und Offenherzigen sind, sie können die Symptome des Problems lindern. Doch lösen können sie es nicht.

Die Strache-FPÖ hatte es noch nie so geradezu obszön einfach wie jetzt.

Die nächste Ebene, deren genauere Betrachtung derzeit zu beklemmender Ratlosigkeit führt: die österreichische Politik. Zwar muss man dem Politiker-Bashing entgegenhalten, dass keine Regierung dieser Republik mit so einer komplexen Herausforderung konfrontiert war. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einem eklatanten Mangel an Führungskraft und -kompetenz zu tun haben. Anstatt an einem Narrativ zu arbeiten, das der Bevölkerung ein Bild anbietet, wie wir die kommenden Jahre nicht nur friedlich überstehen, sondern womöglich gar gestärkt aus dieser Krise herausgehen, verzetteln sich ÖVP und SPÖ in wirren Alibi-Diskussionen um Reizwörter wie „Zaun“ oder „Obergrenze“. Das politische Establishment starrt derweil wie das Kaninchen auf die Schlange. Die Strache-FPÖ hatte es noch nie so geradezu obszön einfach wie jetzt.

Vor dem Hintergrund des Mangels an Leadership in der Regierung bekommt die anstehende Wahl zum Bundespräsidenten eine Brisanz, die noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre. Gelingt es der ÖVP, diese Wahl zu einer Richtungsentscheidung in der Flüchtlingsfrage zu stilisieren, wird ihr Ergebnis zum wohl größten Meinungsforschungsprojekt in der Geschichte dieses Landes. Eines, das den Regierungsparteien die Marschrichtung vorgeben wird. Im Falle eines ÖVP-Erfolgs wird sie danach den Koalitionspartner mächtig unter Druck setzen, wenn nicht sogar aus der Regierung drängen. So patschert die ÖVP wirkte, als sie nicht Erwin Pröll, sondern Khol ins Rennen schickte, so gerissen erschien dieser Schachzug bereits bei dessen erstem Fernsehauftritt in der „ZIB 2“. Dort sagte Khol – und es wirkte authentisch, geradezu instinktiv: Er sehe seine Rolle als Bundespräsident vor allem darin, „ein Sprachrohr“ zu sein, und zwar für jenen „Großteil der Bevölkerung, der immer stärker Angst hat, dass die österreichische Kultur, der österreichische Lebensstil zerstört wird, weil wir eine immer größere Anzahl von Flüchtlingen ins Land nehmen …“ Diesen Satz muss man Wort für Wort wirken lassen.

Gemeinsam würde die EU diese Herausforderung zweifellos bewältigen, nämlich sowohl die Integration der Flüchtlinge als auch die Eindämmung der Wanderbewegung.

Der Bundespräsident als Stimme der Vernunft? Als nüchterner Ruhepol? Als überparteilicher Vermittler? Nix da. Khol geht offenbar als eine Art präsidialer Über-Strache ins Rennen – ob aus eigenem Antrieb oder auf Geheiß der Partei, bleibt unklar, macht aber keinen Unterschied. Ein Bundespräsident als oberstes Ventil der Angst – da kann es nicht lange dauern, bis er Blau-Schwarz 2.0 angeloben wird. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

Auch eine Etage höher, auf europapolitscher Ebene, findet sich wenig Grund, nicht gleich die Nerven wegzuschmeißen. Es ist eine beschämende Tatsache: Gemeinsam würde die EU diese Herausforderung zweifellos bewältigen, nämlich sowohl die Integration der Flüchtlinge als auch die Eindämmung der Wanderbewegung. Stattdessen entpuppt sich die Union über weite Teile als Pseudogemeinschaft, deren Zusammenhalt in der Vergangenheit offenbar ausschließlich in dem Versprechen begründet war, gemeinsam reich zu werden. Probleme anpacken? Kosten und Lasten teilen? Der eigenen Bevölkerung unangenehme Wahrheiten zumuten, um das Große und Ganze zu schützen? Fehlanzeige. Wertegemeinschaft, my ass! Es gab früher den oft zynisch ­vorgetragenen Stehsatz, Europa brauche wohl erst eine gemeinsame Krise, um endlich eine europäische Identität, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Nun, man könnte meinen: Diese Voraussetzung wäre jetzt gegeben. Worauf warten wir?

In Davos, dieser Landschulwoche der Weltelite, war die Angst um Europa und vor einem drohenden Zerfall der Union in bedrückender Intensität spürbar, berichten Teilnehmer. Zu Recht? Nun ja, um den längst angerichteten Schaden am Projekt EU zu erfassen, reicht ein simples Gedankenexperiment: Wie lange wird es wohl dauern, bis die EU – nach innen wie nach außen – auch nur annähernd wieder jene Anerkennung und jenes Vertrauen genießen wird, wie es vor Finanz- und Flüchtlingskrise der Fall war? Die größte Hoffnung ruht – nicht nur in Davos – auf Angela Merkel, und gleichzeitig erleben wir in Echtzeit, wie sie zunehmend isoliert wird – in Europa wie in Deutschland. Dabei ist der Vorwurf an Merkel, sie habe ohne Rücksicht auf eigenes Land und Volk eine offene Einladung an eine unendliche Anzahl von Schutzsuchenden aus anderen Kulturräumen ausgesprochen, unfair und nicht weniger fatal.

Es ist leider offensichtlich, dass auch privilegierteste Vertreter unserer Gesellschaft dazu neigen, ihr Vertrauen in eine positive Zukunft in privater Runde über Bord zu werfen.

Was bitte hätten die Herrn Seehofer & Co. denn an ihrer statt getan, als im Sommer 2015 auf den ungarischen Bahnhöfen Tausende Flüchtlinge am Weg nach Deutschland gestrandet waren? Hätten sie zugesehen, wie eine moralisch wie organisatorisch überforderte ungarische Staatsgewalt, die ganz offensichtlich noch zu sehr an den eigenen historischen Verletzungen laboriert, diese Menschen wegsperrt oder mit dem Wasserwerfer zurück nach Serbien spült? Und was wäre mit den asylsuchenden Menschen dann passiert? Gut möglich, dass Merkel Signale gesendet hat, die Deutschland als willkommensfähiger erscheinen ließen, als es tatsächlich ist. Nur, ihr berühmtes „Wir schaffen das“ war die einzige richtige Aussage, weil sie gleichzeitig den Aspekt der gemeinsamen Herausforderung adressiert und Zuversicht zu erzeugen vermag.

Und da wären wir nun, beim zentralen Begriff: Zuversicht. Es ist leider offensichtlich, dass auch privilegierteste Vertreter unserer Gesellschaft dazu neigen, ihr Vertrauen in eine positive Zukunft in privater Runde über Bord zu werfen und – mitunter geradezu lustvoll, jedenfalls aber vor Zynismus triefend – alle möglichen apokalyptischen Szenarien zu fabulieren. Und das ist nicht weniger als eine Schande, wenn nicht sogar ein moralisches Verbrechen, in jedem Fall aber zusätzliches Gift. Denn es ist doch die, pardon, gottverdammte Pflicht all jener, die die Sicherheiten und Annehmlichkeiten der sich zu Ende neigenden goldenen Ära Europas genießen, einen unverwüstlichen Grundstock an spürbarer Zuversicht beizubehalten.

Gib mir die Kraft, die Zuversicht nicht zu verlieren.

Ja, Europa wird sich, politisch, wirtschaftlich und atmosphärisch verändern. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Summe dieser Veränderungen friktionsfrei und ohne Einfluss auf unseren Wohlstand und unsere Sicherheit über die Bühne gehen wird. Das muss uns nicht überraschen, waren doch die vergangenen 70 Jahre des Friedens und der Prosperität ohnehin ein Unikum in der Geschichte dieses Kontinents, und jeder, der diese Ära erlebt hat, ist in europageschichtlichem Kontext ein unverschämter Glückspilz. Eines sei den selbst ernannten Reitern der Apokalypse ins Stammbuch geschrieben: Wenn nicht einmal sie an einen – wenn auch langwierigen und schwierigen, aber dennoch in Summe gedeihlichen – Weg aus der derzeit unüberblickbar scheinenden Topografie an Krisen glauben, dann ist ohnehin alles verloren.

Aber wie geht das? Wohin soll man seinen Blick richten, wenn tatsächlich auf jeder Betrachtungsebene am Ende nur Rat- und Hoffnungslosigkeit drohen? Die Antwort darauf kann doch nur lauten: auf sich selbst. Auf das eigene Leben, auf das unmittelbare Umfeld. Auf all das, was man zu verlieren hat. Das macht zwar die Herausforderungen nicht weniger komplex und brisant, hilft aber insofern, als dadurch sichtbar wird, wofür es sich jeden Tag lohnt, die Nerven nicht wegzuschmeißen und die eigene Zuversicht im Kleinen oder Großen zur Entfaltung zu bringen. Und damit letztlich der verheerenden Stimmungslage, wie sie etwa die Meinungsumfragen in der vergangenen Ausgabe des profil offenbarten, entgegenzuwirken.

Das erklärte Lieblingsgebet des so spät und dennoch zu früh verstorbenen deutschen Altkanzlers und „Zeit“-Herausgebers Helmut Schmidt kann dabei ein wertvoller Leitfaden sein: „Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Man könnte dieser Tage eine weitere Zeile ergänzen: Gib mir die Kraft, die Zuversicht nicht zu verlieren.

Sebastian Loudon ist Journalist und Österreich-Repräsentant des Hamburger ZEIT-Verlags.