Georg Hoffmann-Ostenhof: Aufstand der Mitte

Warum die Sorge vor einem Siegeszug der Rechtspopulisten bei der EU-Wahl überzogen ist.

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Am 18. Februar traten acht Labour- und drei Tory-Abgeordnete aus ihren jeweiligen Parteien aus, um eine unabhängige Anti-Brexit-Parlamentsgruppe zu bilden. Auf den ersten Blick scheint das keine große Sache zu sein. Bei 650 Parlamentariern sind elf wirklich nicht viel. Die Signalwirkung darf jedoch nicht unterschätzt werden. Kommentatoren malen bereits das Bild eines politischen Erdbebens, welches das britische Zwei-Parteien-System erschüttern könnte, an die Wand.

Die dissidenten Sozialdemokraten empfinden es als unerträglich, dass Labour unter Jeremy Corbin antisemitischen Tendenzen innerhalb der Partei nicht energisch entgegentritt. Und gemeinsam mit den Tory-Abweichlern haben sie genug von der Politik des EU-skeptischen Corbyn und der konservativen Premierministerin Theresa May, die Großbritannien ihrer Einschätzung nach gemeinsam in die Totalkatastrophe eines „harten“ Brexit führen.

Es zeigt sich, dass die Trennlinie zwischen Pro-Brexit und Anti-Brexit heute wirkungsmächtiger ist als jene zwischen links und rechts.

Bisher haben sich keine weiteren Abgeordneten der Abtrünnigen-Gruppe angeschlossen. Aber gelungen ist dieser schon einiges. May hat ihre strikte Ablehnung einer Verschiebung des Austrittstermins aufgegeben. Und Corbyn musste unter Druck Ja zu dem sagen, was er unter allen Umständen vermeiden wollte – die Mehrheit seiner Partei aber will: zu einem zweiten Referendum.

Noch kann niemand sagen, wie und wann die Briten die EU verlassen. Sicher ist aber, dass sich Grundlegendes in der britischen Politik geändert hat. Es zeigt sich, dass die Trennlinie zwischen Pro-Brexit und Anti-Brexit heute wirkungsmächtiger ist als jene zwischen links und rechts. Umfragen zeigen jedenfalls, dass eine neue europafreundliche Mitte-Partei große Chancen hätte, enttäuschte Tory- und Labourwähler en masse zu sich herüberzuziehen.

Sollte sich die Unabhängigen-Gruppe mit den schottischen und walisischen Nationalisten und den Liberaldemokraten – allesamt vehemente „Remainers“ – zusammentun und würde sich diese Allianz einen Anführer geben, könnte womöglich das Ärgste verhindert werden. Die Sozialdemokraten und Konservativen müssten sich jedenfalls warm anziehen. So analysiert der keinesfalls zu Träumereien neigende „Economist“. Und das britische Magazin wüsste schon, wer in diesem proeuropäischen Bündnis die Rolle des Leaders übernehmen könnte: der jetzt aus Labour ausgetretenen Abgeordnete Chuka Umunna, ein charismatischer Politiker mit afrikanischem Migrationshintergrund.

Überall in Europa erleben wir eine mehr oder weniger turbulente Neuordnung der Parteiensysteme.

Kann in Großbritannien etwas Ähnliches wie die En-Marche-Bewegung des amtierenden französischen Präsidenten entstehen? Könnte Umunna quasi ein britischer Emmanuel Macron werden?

Überall in Europa erleben wir eine mehr oder weniger turbulente Neuordnung der Parteiensysteme. Gegen die antiquierten Politstrukturen, welche die Verhältnisse und Interessenslagen des 19. und 20. Jahrhunderts widerspiegeln, formiert sich seit einiger Zeit Widerstand.

Der kommt zuallererst von rechts bis rechtsaußen und zeigt sich im Aufschwung von Parteien wie der italienischen Lega, der FPÖ, dem Rassemblement National der Marine Le Pen oder auch der Vox-Partei in Spanien – von Entwicklungen in Osteuropa ganz zu schweigen. Im Süden Europas fanden und finden auch linkspopulistische Bewegungen regen Zulauf – Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien oder die Fünf Sterne in Italien, die selbst nicht wissen, ob sie nun links oder rechts leuchten wollen.

Mit Sicherheit werden die beiden großen Parteifamilien, die Sozialdemokratie und die Konservativen, verlieren.

Die Polarisierung wird allgemein beklagt. Zu Recht. Dass jedoch im politischen Umbruch nicht nur der Radikalismus vom Rande, sondern auch eine neue proeuropäische Mitte mitspielt, wird nur wenig thematisiert.

Macron steht ja nicht allein da. Auch anderswo sind liberale Europafreunde im Aufschwung: In Großbritannien, siehe oben; in Polen ist die Nowoczesna-Partei, eine Neugründung des Jahres 2015, erfolgreich; die Ciudadanos avancierte inzwischen zur zweitstärksten Partei Spaniens; auch die österreichischen NEOS fallen in diese Kategorie. Der spektakuläre Aufstieg der Grünen in Deutschland weist letztlich in die gleiche Richtung.

Und was bedeutet all das für die Europawahlen im kommenden Mai? Mit Sicherheit werden die beiden großen Parteifamilien, die Sozialdemokratie und die Konservativen, die bisher quasi in einer großen Koalition in Brüssel regierten, verlieren.

Die Europaskeptiker und -feinde dürften, was viele überraschen wird, insgesamt kaum zulegen. Sie werden, so analysieren die Demoskopen, nach den Wahlen auf dem bisherigen (hohen) Niveau von etwas mehr als 20 Prozent der Strassburger Parlamentssitze verharren.

Die Liberalen dürften die eigentlichen Gewinner des Mai werden.

Bei den Europawahlen 2014 hatten einige der Parteien des euroskeptischen Lagers bereits jene Erfolge vorweggenommen, die sie in der Folge auf nationaler Ebene einfuhren. Und dieses ist paradoxerweise auch am stärksten vom Brexit betroffen: Die britische UKIP und die Tories stellten bisher im Europaparlament die starken Bataillone der EU-Basher. Die bleiben jetzt, wie es aussieht, auf der Insel.

Die Liberalen dürften die eigentlichen Gewinner des Mai werden. In Kombination mit der Macron-Liste vermehren sie wahrscheinlich nicht nur ihre Mandate. Erreichen die europäischen Sozialdemokraten und Konservativen, wie vorauszusehen ist, zusammen diesmal keine absolute Mehrheit mehr, könnten die Liberalen – die politische Strömung, die am konsequentesten gegen Nationalismus und für ein starkes Europa eintritt – auch die Rolle von Königsmachern spielen, wenn es um die Besetzung des Kommissionspräsidenten und der anderen Spitzenpositionen in Brüssel geht. Und das wäre gut für Europa.

Georg Hoffmann-Ostenhof