Georg Hoffmann-Ostenhof: Canossa in der Türkei

Merkel bei Erdogan: Realpolitik kann zuweilen peinlich sein – notwendig ist sie dennoch.

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Man kann es natürlich nicht wissen. Aber es spricht einiges dafür: Hätte Europa in den vergangenen Jahren die Türkei nicht so schofel behandelt, Angela Merkel hätte auf ihrer jüngsten Reise an den Bosporus einen weniger pompösen, weniger autoritären, einen demokratischeren Gesprächspartner getroffen.

Ankara wollte die deutsche Kanzlerin meiden, um nicht demonstrativ in Erdogans Monsterpalast nach Ceaușescu-Art empfangen zu werden. Vergeblich. Sie musste sich in Istanbul gemeinsam mit „Sultan Tayyip“, auf abenteuerlich-protzigen Gold-Thronen sitzend, der Öffentlichkeit zeigen. Sie blickte peinlich berührt. Er war sichtlich stolz.

Es hilft nichts: Europa braucht Ankara. Für die Lösung der Flüchtlingskrise und im Rahmen einer europäischen Syrien-Politik. Aber vor einigen Jahren, glaubte man noch in Brüssel, Paris, Berlin und Wien, ungestraft die Türken vor den Kopf stoßen zu können. Man hatte ihnen die Mitgliedschaft versprochen, um dann wenig später zu verkünden: Nein, ihr gehört einfach nicht nach Europa. Die Beitrittsverhandlungen kamen faktisch zum Stillstand. Es hieß: Mitgliedschaft – nie. Privilegierte Partnerschaft – vielleicht.

Erdogan hatte damals viele der von Europa geforderten politischen Reformen durchgeführt, die Versöhnung mit den Kurden vorangetrieben – und die Art, wie er und seine AKP das Land regierten, wurde allseits als Demokratie-Modell für islamische Länder gepriesen. Dann ging es schnell: In kürzester Zeit verkam Erdogan zu einem skrupellosen, machtversessenen Autokraten.

Diese fatale Entwicklung war sicherlich ebenso in dessen Persönlichkeit wie in den politischen Genen seiner islamisch-konservativen AKP angelegt. Und die nahöstlichen Zeitläufe spielten ebenfalls mit. Aber ist es vermessen anzunehmen, dass, hätte Europa die Türkei respektvoller und weniger feindselig behandelt, die Degeneration seiner Herrschaft weniger drastisch oder zumindest langsamer vor sich gegangen wäre?

So machte Frau Merkel ihren Trip zu Erdogan in einer denkbar ungünstigen Situation. Dieser setzt gegenüber den Kurden wieder voll auf Krieg. Um die Pressefreiheit in der Türkei kann es schlechter nicht stehen. Die Opposition wird wie nie zuvor diffamiert und behindert. Und am 1. November sind Parlamentswahlen: Da will sich Erdogan jene absolute Mehrheit zurückholen, die er beim Urnengang im Juni verloren hat. Der hohe Besuch aus Deutschland ist zweifellos eine direkte Wahlhilfe für Erdogan.

Der Deal zwischen Berlin und Ankara ist sinnvoll, aber braucht es nicht mehr?

Jetzt erkennt die EU, dass das, was sich – wie Goethe formulierte – „hinten weit in der Türkei“ abspielt, keineswegs fern, sondern ganz nah ist und dass ohne den Beistand Ankaras Europa in existenzielle Nöte gerät.

So ist Merkels Canossagang realpolitisch – um eines ihrer Lieblingsworte zu gebrauchen – „alternativlos“. Die Milliarden Euro, die sie jetzt Erdogan für die Betreuung der rund zwei Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlinge anbietet, damit sich diese nicht so massenhaft auf den gefährlichen Weg nach Europa machen; die zugesagte finanzielle und organisatorische Hilfe für die türkische Grenzkontrolle an der Ägäis-Küste; die angebotene Abschaffung der Visumspflicht für Türken für den Schengen-Raum – all das ist sinnvoll. Aber hätte Europa nicht schon viel früher auf Ankara, das seit Jahr und Tag die Hauptlast der Syrien-Flüchtlinge schultert, zugehen und helfen müssen?

Das Arrangement MerkelErdogan kommt spät. Wahrscheinlich wird es dennoch ein wenig den nahöstlichen Exodus in Richtung der EU bremsen. Aber reicht dies aus? Bekommt die EU die Flüchtlingskrise damit wirklich in den Griff? Braucht es da nicht um einiges mehr?

Ein interessanter Vorschlag kommt von der European Stability Initiative (ESI), einem renommierten Thinktank: Danach sollte Berlin, statt darauf zu warten, dass sich die Flüchtlinge über das Meer nach Griechenland und über die Balkanroute nach Deutschland durchschlagen, in den kommenden zwölf Monaten 500.000 Syrer direkt von der Türkei übernehmen. Im Gegenzug würde Ankara ab der Unterzeichnung eines entsprechenden Deals jene Flüchtlinge wieder zurücknehmen, die von der kleinasiatischen Küste aus das Meer queren. Damit bekäme die EU die Außen- und Binnengrenzen wieder halbwegs unter Kontrolle.

Noch ein Stück weiter geht der US-ungarische Finanz-Investor und Philanthrop George Soros: „Die EU muss auf absehbare Zeit mindestens eine Million Asylwerber pro Jahr akzeptieren“, schreibt Soros. Diese müssten natürlich verteilt werden: „Die EU sollte jeweils in den ersten zwei Jahren 15.000 Euro pro Flüchtling – für Unterbringung, Gesundheitsversorgung und Erziehung – zur Verfügung stellen. Das würde den EU-Mitgliedsstaaten, die sich sträuben, die Aufnahme der Syrer schmackhaft machen“, meint Soros. Und er weiß auch, woher Brüssel das Geld dafür holen könnte. Die EU besitze die höchste Bonität. Sie könne zu günstigsten Konditionen eine Anleihe auflegen. Und solch ein Asyl-Projekt wäre zudem angetan, die stagnierende europäische Wirtschaft zu stimulieren, versichert er.

Vorstöße wie die von ESI und George Soros erscheinen zunächst höchst unrealistisch. Aber was ist schon unrealistisch in historischen Wendezeiten wie diesen? Auch das, worauf sich Angela Merkel und Tayyip Recep Erdogan vergangene Woche einigten, wäre vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen.

Georg Hoffmann-Ostenhof