Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Der Volkswille

Der Volkswille

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Nie und nimmer würden die europäischen Völker einer weiteren politischen Integration Europas zustimmen. Der französische Ex-Außenminister Hubert Védrine, einst wichtiger Mitarbeiter des Präsidenten François Mitterrand, ist sich sicher: „Immer wenn es um Schritte in Richtung europäischen Bundesstaat ging und die Bevölkerung gefragt wurde, antwortete diese mit Nein – so war es zuletzt 2005 bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden.“ – „Die Völker wollen das einfach nicht. Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist eine Utopie, die sich nicht realisieren lässt“, sagte mir Védrine in einem Gespräch.

Védrine ist Franzose. Und die politische Klasse an der Seine hat traditionell wenig übrig für die Perspektive, nationale Souveränität an Europa abzugeben. Aber selbst jene politischen Kräfte Europas, die in der aktuellen Krise erkannt haben, dass es ohne Souveränitäts-Transfers nach Brüssel nicht gehen wird, dass mehr und nicht weniger Europa notwendig ist, zweifeln: Wie können die notwendigen großen Schritte der politischen Vertiefung gesetzt werden, wenn das ­europäische Bewusstsein und die europäische Identität so wenig entwickelt sind?

Das sei eben der Unterschied zwischen dem Nationalstaat und Europa, wird etwa hierzulande argumentiert: Die Rettung des unverantwortlich abgewirtschafteten Bundeslands Kärnten lassen wir uns viele Milliarden Euro kosten, ohne dass groß dagegen protestiert würde, aber satte österreichische Mehrheiten sind vehement dagegen, dass man den „faulen Griechen“ finanziell hilft.

Stehen also einer tiefer gehenden europäischen Einigung die Bevölkerungen mit ihren nationalen Identitäten im Wege? Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so zu sein. Bei genauer Betrachtung aber war die Situation immer schon viel komplizierter.

So wurde etwa Ende der neunziger Jahre, als die Euro­skepsis blühte und Brüssel in breiten Teilen der Öffentlichkeit für alles Böse verantwortlich gemacht wurde, eine EU-weite Umfrage durchgeführt, bei der folgende Fragen gestellt wurden: Wollen Sie eine europäische Regierung, die einem gewählten europäischen Parlament verantwortlich ist? Soll es einen gewählten europäischen Präsidenten geben? Und eine gemeinsame europäische Armee? In allen damaligen EU-Ländern antworteten auf alle diese Fragen große Mehrheiten mit Ja. Natürlich hätten die Ergebnisse anders ausgesehen, wenn diese Themen politisch konkret angestanden wären. Aber ein Hinweis auf die Vielschichtigkeit des europäischen Bewusstseins war das erstaunliche Resultat dieser Umfrage doch.
Noch etwas Anekdotisches aus der Vergangenheit: Als es darum ging, den Euro nicht nur virtuell, sondern ganz real als allgemeines Zahlungsmittel einzuführen, da waren die Politikeraussagen und Zeitungskommentare Legion, die ganz genau wussten, dass die Völker nur mit großen Verlust- und Zukunftsängsten ihre lieb gewordenen alten Währungen aufgeben würden. Zwar wurde bald der Spruch vom „Teuro“ populär. Aber das Spektrum der Gefühle, mit denen vor zehn Jahren der Euro in den EU-Ländern aufgenommen wurde, rangierte von Gelassenheit bis freudige Erregung. Die Anstrengung, das Neue im Alltag zu bewältigen, führte in den ersten Tagen geradezu zu einer Art von positivem Gemeinschaftserlebnis. Von Schilling-, Mark-, Franc- oder Lira-Nostalgie keine Spur.

Bis heute: Trotz Krise und unsicherer Zukunft der Währungsunion sind es nur kleine radikal-nationalistische Minderheiten, die ernsthaft eine Rückkehr zum alten Geld wollen. Im Jänner 2002 schrieb ich an dieser Stelle: Die Reaktion der Leute auf die Währungsumstellung „zeugt vielleicht noch nicht von ausgeprägtem europäischem Bewusstsein. Europäisches Unbewusstes ist das noch allemal.“

Damals irrten sich die Strategen in ihrer Einschätzung der Gefühlslage der europäischen Völker. Diese wurden unterschätzt. Könnte das diesmal nicht auch der Fall sein?

Das glaubt zumindest der deutsche Philosoph Jürgen Habermas in einem großen Essay mit dem Titel „Zur Verfassung Europas“. Die „schlappen Eliten“ mögen sich nicht auf die Bevölkerungen ausreden, schreibt er. Die demoskopisch erfasste Meinung sei nicht dasselbe wie das Ergebnis eines echten demokratischen Willensbildungsprozesses der Staatsbürger. Und Habermas stellt fest: „Bisher hat es in keinem Land auch nur eine einzige Europawahl oder ein einziges Referendum gegeben, in denen über etwas anderes als über nationale Themen und Tickets entschieden worden wäre.“ Alle politischen Parteien seien uns den Versuch schuldig geblieben, die öffentliche Meinung durch eine offene Aufklärung politisch zu gestalten.
Die Debatte über Europa hat nie wirklich stattgefunden. Bisher zumindest. Jetzt, wo es ums Überleben des Euro geht, ist die europäische Politik erstmals gezwungen, die Zukunft des Kontinents in aller Öffentlichkeit und unter Einbeziehung der Bevölkerung zu verhandeln. In dieser existenziellen Krise besteht die Chance, dass Europa sich aus dem fatalen Spannungsfeld zwischen technokratischem Eliteprojekt und populistischem Ressentiment löst.

Die Chance der europäischen Erneuerung ist da. Ob sie tatsächlich ergriffen wird, ist freilich ungewiss. ■

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Georg Hoffmann-Ostenhof