Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Die Zäsur

Die Zäsur

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Russland überrascht immer wieder. Und in regelmäßigen Abständen zertrümmert das russische Volk stereotype Bilder, die sich die Welt von ihm macht.

Als Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Wiens Intellektuellenkreisen das Gerücht umging, dass sich in Moskau und St. Petersburg eine Revolution vorbereite, hieß es: „Geh, wer soll die denn machen, der Herr Bronstein aus dem Café Central vielleicht?“ Das ist eine bekannte Anekdote. Als Leo Trotzki sollte der „Herr Bronstein“ wenige Jahre später an der Spitze der bolschewistischen Revolution stehen. Aber man traute nicht nur dem schachspielenden Emigranten nicht zu, Geschichte zu machen. Dass das russische Volk die Zarenherrschaft stürzen könnte, erschien als ebenso absurde Vorstellung: Wie sollte das Heer der dumpfen Muschiks, der apathischen Leibeigenen, je den Mut und die Kraft aufbringen, gegen die Herrschaften aufzustehen?

„Selbst Lenin hat noch 1916 nicht daran geglaubt, dass die Revolution vor der Tür steht“, schreibt der prominente Schriftsteller Viktor Jerofejew in einem Artikel mit der Überschrift „Russland vor der Revolution“, der von den Moskauer Ereignissen der vergangenen Woche handelt.

Wir wissen, die Revolution von 1917 ist schiefgegangen. Sie fraß ihre Kinder. Auch Trotzki musste daran glauben. Und das russische Volk, das die zaristische Autokratie gestürzt hatte, wurde unter Stalin und dessen Terror wieder zu dem, was es zuvor schon war: zu Leibeigenen. Diesmal nicht unter der Knute der Großgrundbesitzer, sondern unter der des Sowjetstaats. Der so genannte „Homo Sovieticus“ hatte alle Charakteristika des Muschiks, seine Unterwürfigkeit, seine Unselbstständigkeit, seine Apathie, seine Ängstlichkeit und seine Sehnsucht nach einem starken Mann, der ihn führen könne. Da hatte man ihn wieder, den „russischen Volkscharakter“.

Nicht zuletzt, weil man an dessen Beständigkeit glaubte, konnte sich bis in die späten achtziger Jahre auch absolut niemand vorstellen, dass die Herrschaft des Kommunismus, die sich für die Ewigkeit eingerichtet zu haben schien, demnächst ihr Ende fände. Und dann ging es ganz schnell: Gorbatschow, Perestroika, Glasnost, samtene Revolutionen in Osteuropa – und schon warf die Sowjetunion das Handtuch.

Dann folgten die turbulenten Jelzin-Jahre – der Wilde Osten. So sehr die Russen die neuen Freiheiten genossen – diese Zeit empfanden sie in zunehmendem Maß als bedrohliches Chaos. Und so setzten sie große Hoffnung in den Jelzin-Nachfolger, den ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin. Er versprach eine Rückkehr zu Stabilität.

Und er hielt zunächst das Versprechen. Er machte Ordnung. Zehn Jahre hindurch sahen die Russen im Mann mit den dünnen Lippen und den kalten Augen den „Guten Zaren Wladimir“. Selbst noch, als sich klar zeigte, dass die neue Ordnung eine der Kreml-Kleptokraten war und dass Putin das Land in Richtung Autokratie und Polizeistaat führte, konnte er sich über Zustimmungsraten von über zwei Drittel freuen. Das alte Vorurteil über das russische Volk rastete erneut ein: Das brauche und liebe eben eine starke Hand, Freiheit und Demokratie sei seine Sache nicht.

Und wieder scheint man sich zu täuschen: Seit Ende vergangenen Jahres ist die Situation gekippt. Die offensichtliche Schummelei bei den Wahlen, die schamlose ­Postenrochade zwischen Dmitri Medwedew und Putin, der nun zum dritten Mal in den Kreml einzog, hat dessen Beliebtheitswerte abstürzen lassen. Auch setzt sich die Erkenntnis durch, dass der alt-neue Kremlherr mit seinen Geheimdienstkumpanen dabei ist, das Land zugrunde zu richten. Es sind nicht mehr die paar hundert chronischen Dissidenten, nein, es sind Zehntausende, die in den russischen Städten „Putin ist ein Dieb“ rufen. Diese konkrete Benennung des Bösen wäre noch vor einem Jahr undenkbar gewesen.

Es ist eine neue Generation, die da marschiert, eine Generation, welche die Sowjetherrschaft nicht erlebt hat. Im Unterschied zu ihren Eltern haben die Jungen keine Angst vor der Staatsmacht. Und das ist für Putin unerträglich. Offensichtlich gerät er in Panik. Er will sie nun das Fürchten lehren, um die sich entfaltende Massenbewegung rechtzeitig zu stoppen: Razzien bei Anführern der Opposition, unverblümte Morddrohungen und ein neues Gesetz, das bei „illegalem“ Demonstrieren Geldstrafen vorsieht, die einem durchschnittlichen Jahresgehalt entsprechen – das sollte der Protestbewegung den Garaus machen. Dennoch haben sich vergangenen Dienstag in Moskau – realistisch geschätzt – zwischen 50.000 und 80.000 Menschen nicht davon abhalten lassen, auf die Straße zu gehen. Unter diesen Bedingungen ist das sehr viel.

Viktor Jerofejew schreibt: „Wie viel Zeit vergehen wird, bis die Revolution beginnt, weiß keiner. Zugegeben, die liberalen Kräfte im Land sind schwach. Aber da ist der gerechte Volkszorn, und er wird immer größer. Da ist die schwindende Macht des Staats, sind seine Dummheit, seine Provokationen und seine Angst. Aber da ist auch die Entschlossenheit des Staats: Wir geben die Macht nicht ab! Das Bild von der Erschießung der Zarenfamilie ist noch frisch im Gedächtnis.“

Wieder werden Weichen gestellt. Wir erleben offenbar eine Zäsur der russischen Geschichte.

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Georg Hoffmann-Ostenhof