Georg Hoffmann-Ostenhof: Die gute Wahl

Gut möglich, dass nach der hinter uns liegenden Krisendekade nun eine europäische Renaissance folgt.

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Es ist erschreckend: Die extreme Rechte hat bei den jüngsten Europawahlen in drei der größten EU-Länder – Italien, Frankreich und Großbritannien – gewonnen. Matteo Salvinis Lega, Marine Le Pens Rassemblement National und Nigel Farages Brexit-Party wurden jeweils die stärksten Parteien in Italien, Frankreich und Großbritannien. In Ungarn und Polen erfreuen sich die regierenden reaktionären Brüssel-Basher einer klaren Mehrheit. Die Mitteparteien, Sozialdemokraten und Konservativen, die in den vergangenen Jahrzehnten die EU führten und zusammenhielten, sind die großen Verlierer. Neue Kräfte tauchen auf. Das Parteiensystem fragmentiert und polarisiert sich zunehmend. Europa wird instabil. Und noch weniger handlungsfähig als bisher schon.

So düster kann die aktuelle Europawahl erzählt werden.

In einer alternativen Erzählung gibt aber der 26. Mai 2019 Anlass zum Feiern. In ihr ist dies ein Jubeltag. Hier dieses optimistischere Narrativ:

Nach 40 Jahren, in denen die Wahlbeteiligung bei jedem Urnengang gesunken war, hat sich der Trend nun umgekehrt. 51 Prozent der wahlberechtigten Europäer – so viel wie seit 1999 nicht mehr – gaben diesmal ihre Stimmen ab. Das ist ein starkes Lebenszeichen der europäischen Demokratie in einer Zeit, in welcher der Autoritarismus weltweit und auch innerhalb der EU im Aufschwung ist. Das Parlament hat an Gewicht gewonnen. Erleben wir das Erwachen des europäischen Demos?

Das vergangene Jahrzehnt zeigte auch, wie widerstandsfähig die Union und ihre Institutionen sind.

Die großen Krisen des vergangenen Jahrzehnts – der Crash 2008, die Euro-, dann die Migrationskrise und schließlich der Brexit – haben die großen Schwächen der EU offenbar werden lassen. Aber nicht nur. Das vergangene Jahrzehnt zeigte auch, wie widerstandsfähig die Union und ihre Institutionen sind, und dass trotz der mannigfaltigen zentrifugalen Tendenzen doch eine starke Kohäsionskraft wirkt.

Mehrfach also hat der Kontinent in den Abgrund geblickt. Die Welt außerhalb wird zudem – siehe Trump, Putin, China – immer bedrohlicher. So haben die Europäer den Glauben an die EU wieder ein wenig gefunden. In einer Umfrage Ende vergangenen Jahres sagten 62 Prozent, dass die EU-Mitgliedschaft eine gute und nur elf Prozent, dass sie eine schlechte Sache ist. So positiv eingestellt waren die Europäer das letzte Mal 1992.

Vor allem aber erlebten wir bei den jüngsten Wahlen zum ersten Mal eine echte Politisierung der europäischen Öffentlichkeit.

Vor allem aber erlebten wir bei den jüngsten Wahlen zum ersten Mal eine echte Politisierung der europäischen Öffentlichkeit. Bisher inszenierten sich die EU-Wahlen als Addition von 28 separaten nationalen Veranstaltungen. Diesmal war es anders. Selbst im von Ibizagate und Kurzsturz aufgewühlten und traditionell EU-skeptischen Österreich wurden im Wahlkampf neben innenpolitischen bis zuletzt auch intensiv europapolitische Themen debattiert. Ein absolutes Novum.

Die rechten Nationalisten konnten insgesamt Gewinne erzielen. Sie haben ab nun statt ein Fünftel, wie bisher, ein Viertel der Sitze im Straßburger Parlament – sind aber enttäuscht: Sie hatten sich mehr erwartet. In einigen Ländern mussten sie sogar herbe Niederlagen einstecken. Und die extreme Rechte sah sich – dem Zeitgeist Rechnung tragend – gezwungen, ihre radikale Europafeindlichkeit zu verstecken. Keine dieser Parteien wagt es mehr, direkt den Austritt aus der EU oder dem Euro zu propagieren.

Und dort, wo Nationalisten regieren – aber auch anderswo – mehren sich die Demonstrationen, bei denen die blau-goldene Europa-Fahne flattert.

Die Liberalen im Bündnis mit der neuen Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und die Grünen sind die wirklichen Gewinner der Europawahl.

Es stimmt: Wir erleben in Europa eine Polarisierung. Aber dem rechtsrechten Pol, der nun leicht gestärkt aus den Europawahlen hervorgeht, steht kein linkslinker – diese Parteienfamilie ist eher geschwächt – gegenüber. Die andere Seite der Polarisierung sind die am meisten proeuropäischen Parteien der EU: Die Liberalen im Bündnis mit der neuen Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und die Grünen sind die wirklichen Gewinner der Europawahl.

Wenn die traditionellen linken und rechten Mitteparteien abgestürzt sind, so bedeutet das keineswegs einen vielfach beklagten gefährlichen „Verlust der Mitte“, sondern eher deren ökoliberale Erneuerung, Verjüngung und Dynamisierung.

Und war es nicht jene bisher in der EU herrschende große Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen, die zwar für eine relative Stabilität sorgte, aber immer wieder in den vergangenen Jahrzehnten die so notwendigen Reformen blockierte? Diese alten großen Parteienfamilien stellen noch immer die relative Mehrheit, aber ohne Liberale und Grüne geht nichts mehr. Das Parlament ist beweglicher geworden. Es könnte sich sogar so etwas wie eine majoritäre „Progressive Allianz“, ein linksliberales, antinationalistisches Bündnis jenseits der Konservativen Volkspartei herausbilden – etwas, was mit unterschiedlichen Akzenten sowohl der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, der niederländische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans, als auch der Franzose Emmanuel Macron anstreben.

Das ist die fröhlichere Interpretation der Europawahl 2019. Sie macht keine Prognosen, zeigt aber die Möglichkeit auf, dass nach der hinter uns liegenden Krisendekade nun eine europäische Renaissance eingeläutet wurde.

Georg Hoffmann-Ostenhof