Georg Hoffmann-Ostenhof: Französisch lernen!

Emmanuel Macron hat mit seiner Sorbonne-Rede die längst fällige Debatte über die Zukunft Europas eröffnet.

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"Lieber Emmanuel Macron“, schreibt vergangene Woche ein Österreicher, der noch kürzlich nach eigenen Angaben überzeugt war, dass die EU keine Zukunft hätte. „Nach Ihrer großen und großartigen Rede an der Pariser Sorbonne, nach Ihrem leidenschaftlichen Plädoyer für eine EU-Reform, nach Ihrem wortgewaltigen Appell zu einer Neugründung Europas“ – sei er nicht mehr so sicher, dass die EU dem Untergang geweiht sei. Und er schließt seinen Brief an den Präsidenten Frankreichs mit „Vive la France! Vive la EU!“

Stoßen Sie sich nicht daran, dass es nicht „Vive la EU“, sondern „Vive l’UE“ heißt! Raten Sie einfach, wer der so euphorisierte Briefschreiber ist. Sie werden nicht draufkommen. Die Eloge auf Macron steht in „Post von Jeannée“. Doch, doch. Der „Krone“-Kolumnist Michael Jeannée, einer der bösartigsten Brüssel-Basher, entdeckt plötzlich seine Liebe zu Frankreich und zur EU. Da muss etwas passiert sein. Aber was?

Rekapitulieren wir. An die „immer engere Union der europäischen Völker“, also die Perspektive, die im Gründungsvertrag der EU 1992 in Maastricht festgelegt wurde, wollte in den vergangenen Jahren niemand mehr glauben. Die erstarkenden Rechtspopulisten und Radikalnationalisten ohnehin nicht, die sind seit jeher darauf aus, die Union zu sprengen. Aber auch sonst ist „Renationalisierung“, die Rückholung von Kompetenzen von Brüssel in die Nationalstaaten, en vogue – und sei es in der euphemistischen Sprache des „Subsidiaritätsprinzips“. Auch viele, die sich selbst als „glühende Europäer“ verstehen, bezweifeln inzwischen pessimistisch, dass eine „engere Union“ überhaupt auf der geschichtlichen Tagesordnung steht.

Und dann kommt Emmanuel Macron und schlägt in einer fulminanten Rede just das vor, was so gar nicht im Zeitgeist zu liegen scheint: eine Eurozone, die über ein eigenes Budget verfügt, und eine EU, die Steuern einhebt, also gemeinsam investiert. Er will einen Integrationsschub in Bereichen wie der Verteidigungs-, Innen-, Außen- und Asylpolitik, ja, auch im Bereich Steuern und Soziales; Klimaschutz und Digitalisierung sollen mit Wucht vorangetrieben und die Währungsunion vertieft werden. Macron will also den großen Wurf, und nicht das kleine Karo.

Dagegen findet sich aber nicht, wie man annehmen könnte, eine Ablehnungsfront zusammen, um diese hochfliegenden Europa-Reformpläne zu verdammen. Nein, die generelle Reaktion auf Macrons Sorbonne-Rede ist eher positiv. Von ihr hat sich offenbar nicht nur Jeannée mitreißen lassen.

Und das hat seinen Grund. Ganz neu sind Macrons Ideen nicht. Ähnlich kühne Erneuerungsprojekte wurden schon zuvor von anderen vorgestellt. Bloß, diesmal kommt das vom amtierenden Staatspräsidenten eines europäischen Landes, das zudem gerade dabei ist, an Gewicht in der EU zu gewinnen. Eine ähnlich zukunftsweisende Rede hat seit Langem kein europäischer Staatsmann gehalten.

Wenn Macron von Souveränität spricht, meint er nicht die Frankreichs, sondern die Europas.

Einst hieß es: Europa wird politisch von Frankreich geführt, Deutschland ist der Zahlmeister. Spätestens seit der Jahrhundertwende verlor Frankreich aber sukzessive an Einfluss. Mit der zunehmenden politischen Integration wurde Diplomatie – eine Disziplin, in der die Franzosen seit jeher Weltmeister waren – innerhalb Europas zunehmend unwichtiger. Wirtschaftlich und politisch stagnierte Frankreich, das Land versank zunehmend in Depression und Zukunftsangst. Deutschland aber wurde nach der Wiedervereinigung zunehmend stärker und gewann eine immer dominantere Stellung in der EU.

Mit dem Brexit hat sich eine tektonische Verschiebung der Kräfteverhältnisse ergeben: Großbritannien, jene Macht, die sich regelmäßig gegen jeglichen weiteren Integrationsschritt querlegte und die EU am liebsten als bloße Freihandelszone wollte, hat sich verabschiedet. Die Franzosen, welche die europäische Einigung immer schon als politisches Projekt sahen, sind nun spektakulär auf die Bühne der Europapolitik zurückgekehrt. Und das mit einem dynamischen Ausnahmepolitiker an der Spitze.

Glaubwürdig macht Macron, dass er ja nicht nur kühne Ideen für Europa hat. Er beginnt auch, Frankreich umzukrempeln. Tabus werden gebrochen: Er liberalisiert in einem Land, in dem Liberalismus ein Schimpfwort ist, will den französischen Staat, an dem seine Landsleute traditionellerweise so hängen, verschlanken. Und wenn er in seiner Rede von Souveränität spricht, dann meint er nicht die französische, sondern die europäische, die es angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und China, Donald Trump und Wladimir Putin zu stärken gelte. Verständlich, dass die französischen Nationalisten aller Couleurs, die sich allesamt „souverainistes“ nennen, schäumen.

Aber wird es diesmal nicht wieder nur bei schönen Reformworten bleiben, wie schon so oft?, fragen die Skeptiker. Wird Berlin Macron nicht einen Strich durch seine Reformrechnung machen? Immerhin zieht – wenn Angela Merkel demnächst nicht, wie von Paris gehofft, wieder mit den Sozialdemokraten koaliert – in die Regierung wahrscheinlich die FDP ein, die ein gemeinsames Euro-Budget geradezu verteufelt.

Gewiss wird der Charismatiker im Élysée-Palast auf Widerstand stoßen – und nicht nur auf den der Deutschen. Einfach wird die „Neugründung“ der EU sicher nicht. Aber Macron hat die längst fällige und drängende Debatte über die Zukunft Europas eröffnet. Und in dieser hat er sich zum „Maître du jeu“, zum Spielmacher, aufgeschwungen. Europa wird Französisch lernen müssen.

Georg Hoffmann-Ostenhof