Georg Hoffmann-Ostenhof: Merkel wär fein

... aber es muss nicht unbedingt ein Konservativer der nächste Präsident der EU-Kommission werden.

Drucken

Schriftgröße

Vor einigen Jahren machte eine Spekulation die Runde: Angela Merkel könnte als deutsche Bundeskanzlerin abtreten, um als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) bei den Europawahlen zu kandidieren. Da die EU-Konservativen nach allen Voraussagen wieder die stärkste Parteienfamilie in Straßburg bilden werden, wäre Merkel dann so die natürliche Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker als Präsidentin der Kommission. Damit stünde das erste Mal seit Jacques Delors wieder eine Persönlichkeit mit wirklich internationalem Gewicht und globaler Reputation (Juncker möge verzeihen) an der Spitze der EU.

Davon ist nun nichts mehr zu hören. Es wird auch nicht passieren. Dennoch: Die EVP kürt erst am 8. November ihren Spitzenkandidaten, theoretisch wäre also solch ein Szenario immer noch möglich. Und dieses hätte nach wie vor – oder gerade jetzt – durchaus Charme.

Seit ihrem "Wir schaffen das" des Jahres 2015 befindet sich Angela Merkels Stern im Sinkflug, in ihrer Partei, der CDU, wird an ihrem Stuhl kräftig gesägt und die von ihr geführte Koalitionsregierung steckt in permanenter Krise. Das Ende der Ära Merkel zeichnet sich ab. Eine Flucht nach vorne in Richtung Europa – nach Art des Christian Kern – würde ihr den langen und quälenden Niedergang ihrer Macht ersparen.

Noch ist die innenparteiliche Opposition, die ihr ihren pointierten Antinationalismus übel nimmt, nicht formiert, Merkel könnte also noch bestimmend sein, wenn es um ihre Nachfolge in Partei und Staat geht. Und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wäre sie mit Sicherheit eine strahlende Siegerin. Denn so sehr ihre Popularitätskurve nach unten weist – sie ist immer noch (nach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) die Beliebteste unter allen Politikern im Land.

Europa und seiner Stellung auf der Welt täte eine Kommissionspräsidentin Merkel sicherlich gut.

Auch sonst. Eine jüngst durchgeführte weltweite Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zeigt Merkel als jene Persönlichkeit der Weltpolitik, der am meisten Vertrauen entgegengebracht wird. Sie liegt vor Emmanuel Macron, dem Chinesen Xi Jinping, Wladimir Putin und meilenweit vor dem Schlusslicht Donald Trump. Europa und seiner Stellung auf der Welt täte eine Kommissionspräsidentin Merkel sicherlich gut.

Es bleibt aber ein Gedankenexperiment. In der Realität gilt bisher der Deutsche Manfred Weber als wahrscheinlichster Spitzenkandidat der europäischen Konservativen. Der wenig charismatische Fraktionsführer der EVP in Straßburg kommt aus der bayerischen CSU, jener eher euroskeptischen Partei, die Merkel in der Migrationsfrage das Leben schwer macht und mit dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán flirtet.

Seit vergangenem Dienstag hat nun Weber einen Gegenspieler bekommen. Der vielsprachige Finne Alexander Stubb – ehemaliger Premier in Helsinki und aktueller Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank – will es auch wissen. Er bezeichnet sich als "mitte-links innerhalb der EVP" und sieht im Aufstieg der Nationalisten eine existenzielle Bedrohung für Europa: "Ich sehe, dass die europäischen Werte – in der EU und in unserer Parteienfamilie – angegriffen werden", sagte er kürzlich. "Grundrechte, Freiheit, liberale Demokratie und Rechtsstaat: Wenn wir das alles nicht verteidigen, sind wir verloren." Ginge es nach ihm, Fidesz, die Partei Orbáns, wäre längst aus der EVP ausgeschlossen worden. Stubb hat, so hört man, einen "Macron-artigen Zugang zur europäischen Politik".

Es wird interessant, auf welche Seite sich Sebastian Kurz beim EVP-Treffen im November schlagen wird.

Für den Bayern Weber ist es noch nicht gelaufen. Insbesondere, als sich Stubb als Anwalt der "Kleinen" in der EU gegen die allzu große Dominanz der Deutschen präsentiert. Es wird interessant, auf welche Seite sich Sebastian Kurz beim EVP-Treffen im November schlagen wird. Dass der nächste Kommissionspräsident aus den Reihen der europäischen Volksparteien kommt, ist auch noch nicht ausgemachte Sache. Zwar dürfte die EVP wieder stärkste Kraft im Europaparlament werden. Aber sonst ist wenig sicher. Da kommt einiges ins Rutschen. Glaubt man den Demoskopen, sind starke Verschiebungen zu erwarten. Die beiden Großen – EVP und Sozialdemokraten – dürften schwere Verluste einfahren. Gewinnen wird sicher die Gruppe der Rechtsradikalen und Rechtspopulisten. Auch im Aufwind sind die Grünen. Und wenn sich – wie auch immer – die Liberalen mit Emmanuel Macron zusammentun, werden sie in Straßburg gleichfalls ein stärkeres Gewicht als bisher haben.

Inmitten dieses Umbruchs des europäischen Parteiensystems könnte das bisherige Gentlemen’s Agreement, dass die stärkste Partei den Kommissionspräsidenten stellt, seine Gültigkeit verlieren. Da werden im neuen Parlament wohl die verschiedensten Allianzen geschmiedet werden. Und in dieser Situation ist es nicht ausgeschlossen, dass diesmal ein Liberaler oder ein Sozialdemokrat an die Spitze der EU gehievt wird. (Darin liegt auch die kleine Chance Christian Kerns, Kommissionspräsident zu werden.)

Sicher ist aber, dass sich in der EU langsam die Erkenntnis durchgesetzt hat, wonach die Hauptgefahr für Europa weniger die Flüchtlinge und Migranten sind, sondern vielmehr deren nationalistische Verteufler. Den Herrschaften in Warschau und Budapest lässt man inzwischen nicht mehr alles wie bisher durchgehen. Auch die italienischen Populisten hat Brüssel jüngst in die Schranken gewiesen.

Vor diesem Hintergrund finden im kommenden Mai die Europawahlen statt. Wäre es nicht so abgedroschen, müsste man sagen: Es werden Schicksalswahlen.

Georg Hoffmann-Ostenhof