Georg Hoffmann-Ostenhof: Reichstagsbrand am Bosporus?

Georg Hoffmann-Ostenhof: Reichstagsbrand am Bosporus?

Putsch und Gegenputsch in der Türkei: Von Sinn und Unsinn historischer Vergleiche.

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Je verworrener, komplexer und undurchsichtiger politische Ereignisse sind, umso mehr ist man versucht, mithilfe von historischen Parallelen zu begreifen, was gespielt wird. So auch jetzt: Womit kann man also die dramatische Entwicklung in der Türkei vergleichen?

„So wie Hitler den berüchtigten Reichstagsbrand zum Vorwand nahm, die totale Macht zu ergreifen, so wird der vermasselte türkische Staatsstreich nun Recep Tayyip Erdogans Weg zur Diktatur beschleunigen“, schrieb etwa Doug Bandow vom Cato Institute, einem amerikanischen Thinktank, bereits unmittelbar nach der Putschnacht. Die darauffolgenden Tage schienen ihn zu bestätigen.

Im Februar 1933 hatte ein junger holländischer Kommunist das Parlamentsgebäude in Berlin in Brand gesteckt, worauf die Nazis unter dem Vorwand, eine große Verschwörung sei da am Werk gewesen, begannen, mittels Massenverhaftungen die Opposition systematisch auszuschalten. Hitler setzte die Weimarer Verfassung außer Kraft. Der türkische Präsident verhängte nun vergangenen Mittwoch den Ausnahmezustand, suspendierte die demokratischen Rechte und setzte eine Säuberungswelle gewaltigen Ausmaßes in Gang: in der Polizei, der Justiz, im Erziehungswesen, vor allem aber in der Armee. Zigtausende verloren bereits ihren Job, und die Gefängnisse füllen sich – so wie 1933 in Hitlerdeutschland.

So weit scheint der Rückgriff auf den Reichstagsbrand seine Richtigkeit zu haben. Bloß schwingt bei dem Vergleich etwas anderes mit. Wer seinerzeit hinter der Brandstiftung in Berlin stand, ist bis heute umstritten. Viele sind der Überzeugung, die Nazis selbst wären die Drahtzieher gewesen. Auch jetzt ist die Version, wonach Erdogan den Putsch selbst inszeniert und ihn bewusst scheitern habe lassen, um dann massiv durchgreifen zu können, sehr beliebt – in einer Umfrage des Londoner Meinungsforschungsinstituts Streetbees glaubt das ein Drittel der Türken. Hätte das Militär Erdogan ernsthaft stürzen wollen, wäre dieses sicher nicht so ungeschickt vorgegangen, wird argumentiert.

Bei näherer Betrachtung war der Putschversuch gar nicht so dilettantisch. Nur knapp haben die rebellischen Offiziere ihr Ziel verfehlt. So glaubte zumindest die Führung in Ankara in den dramatischen Stunden in der Nacht auf Samstag. „Sie werden wahrscheinlich erfolgreich sein“, mutmaßte während der Regierungssitzung – nach Angaben eines Anwesenden, der dies dem britischen „Guardian“ berichtete – ein Minister düster. „Bereiten wir uns aufs Sterben vor. Wir werden in diesem Kampf als Märtyrer fallen.“ Das staatliche Fernsehen TRT war von den Rebellen eingenommen. Diese hatten eine Moderatorin gezwungen, eine Erklärung zu verlesen, wonach das Militär die Macht übernommen habe. Darauf hätte zwei Minuten Stille bei den Regierungsmitgliedern geherrscht. Bis ein anderer Minister witzelte: „Beunruhigt euch nicht, ich schaue TRT schon in normalen Zeiten nicht, das ist ja nur das staatliche Fernsehen.“ Er sollte mit seinem Galgenhumor einen Punkt getroffen haben.

Eine Ironie der Geschichte: Erdogan, der noch vor Kurzem Twitter als ‘größte Bedrohung‘ verteufelt hatte, wurde nun just von diesem und anderen sozialen Netzwerken gerettet.

Denn offenbar genügt es heute nicht mehr, Jagdbomber aufsteigen und Panzer rollen zu lassen sowie Fernsehsender und Zeitungsredaktionen zu besetzen, um die Macht zu erobern. „Twitter hat die Panzer lächerlich erscheinen lassen“, schreibt Thomas Schmid in der deutschen Tageszeitung „Die Welt“. Tatsächlich hat sich das Blatt in der Putschnacht gewendet, als Erdogan mittels seines Smartphones über einen (von den Rebellen nicht besetzten) Privatsender die Bevölkerung aufrief, auf die Straße zu gehen und Widerstand gegen die Putschisten zu leisten. Hunderttausende twitterten seinen Aufruf, und Millionen leisteten diesem Folge. Eine Ironie der Geschichte: Erdogan, der noch vor Kurzem Twitter als „größte Bedrohung“ verteufelt hatte, wurde nun just von diesem und anderen sozialen Netzwerken gerettet. Gewiss spielten auch „Zufälligkeiten“ eine gewisse Rolle: wie etwa jene, dass Erdogan sein Hotel bereits wenige Minuten zuvor verlassen hatte, als die meuternden Truppen dieses angriffen.

Hat die Ansicht, dass die Nazis selbst hinter dem Reichstagsbrand standen, noch eine gewisse Plausibilität, erweist sich also die Idee, dass Erdogan selbst den Putschversuch inszeniert hat, als absurde Verschwörungstheorie.

In den Kommentaren und Analysen der Ereignisse werden auch andere historische Parallelen gezogen: Hat nicht Josef Stalin knapp vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges den Heeresführer Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski über die Klinge springen lassen und die Rote Armee von 45 Prozent des Offizierscorps gesäubert? Und hat Hitler nicht 1934 in einer Nacht der langen Messer die SA-Führung liquidiert und sich damit eine potenzielle innerparteiliche Opposition vom Hals geschafft, so wie jetzt Erdogan die Gülen-Bewegung, die innerislamische Konkurrenz, zu beseitigen trachtet?

Die Ereignisse in Ankara und Istanbul lassen den amerikanischen Türkei-Experten Soner Cagaptay noch an einen anderen historischen Moment denken: an die Khomeini-Revolution. „Wenn ich die Leidenschaften auf der Straße, die permanenten Aufrufe der Moscheen und diese Mischung von Religion und Politik sehe, scheint mir das Iran-1979-Szenario noch nie so nah der Realität zu sein wie heute.“

Cagaptay relativiert aber sofort: Sehr wahrscheinlich erscheint ihm am Bosporus eine Theokratie nach Teheraner Art dennoch nicht. Die Rahmenbedingungen sind ganz andere. Und Erdogan sei trotz seines frömmelnden Fanatismus und trotz seiner Machtgier für eine veritable islamische Revolution „letztlich zu pragmatisch“.

Georg Hoffmann-Ostenhof